Der Charme der Plattenarchitektur

Zurück zum Beton

Der Architekt und Verleger Philipp Meuser hat ein nicht nur unter bauhistorischen Gesichtspunkten einzigartiges Kompendium vorgelegt: Seine Monumentalstudie »Die Ästhetik der Platte« liest sich durchweg als interessantes Plädoyer, trotz aller Widrig­keiten die Errungenschaften der realsozialistischen Großbau­programme anzuerkennen und sie für heute drängende soziale Planungsfragen zu überdenken. Eine Rettung des Plattenbaus, auch in ästhetischer Hinsicht.

Die architektonischen Verfehlungen der Moderne pauschal auf den Funktionalismus des Plattenbaus zu reduzieren, verkennt die Dynamik dieser Epoche, verleugnet ihre produktive Ambivalenz; allein schon den – ohnehin in seinen Formen doch sehr vielgestaltigen – Plattenbau nur als Angelegenheit der Architektur zu verhandeln, ist eine Verkürzung, die bei aller augenscheinlich berechtigten Kritik an dieser Bauweise ihr Potential verleugnet, das freilich eine kapitalistische Profit- und Marktökonomie kaum zur Geltung bringen kann.
Philipp Meuser, der sich durch seinen Verlag DOM publishers (Dom ist russisch und heißt Haus) und dort herausgegebene Bücher wie den Prachtband über »Architektur für die russische Raumfahrt« (Jungle World 36/2013) bereits einen Namen als versierter Kenner der modernen und vor allem sowjetischen Architektur gemacht hat, legt nun eine über 700seitige Studie vor, die unter dem plakativen Titel »Die Ästhetik der Platte« den bemerkenswerten Versuch unternimmt, nicht nur die Geschichte des modernen Siedlungsbaus in allen Details nachvollziehbar zu entfalten, sondern die hiermit verbundenen Verfahren, Wohnraum mit standardisierten Betonfertigteilen in Masse herzustellen, zugleich als Vorschlag für heutige urbane Gestaltungsaufgaben ins Spiel zu bringen. Nicht wenige der realsozialistischen Plattenbauprojekte könnten sich, kritisch überdacht und gegenwärtigen wie zukünftigen Erfordernissen angepasst, nachgerade als architektonische Lösungen für sich fundamental verändernde Stadtstrukturen und Agglomerationen anbieten, die durch die immer größer werdenden globalen Migrationsbewegungen virulent sind. Schließlich geht es hier nicht bloß um Unterkunft, sondern um die Notwendigkeit, eine Gesellschaft human einzurichten. Die gegenwärtigen Baukonzepte bieten hier kaum eine Perspektive.
Meuser stellt klar heraus, dass es mitnichten um Wohnraum als fassadenverhübschte Menschenaufbewahrung geht, sondern – und das charakterisiert durchaus die Wohnungsbauprojekte des sogenannten Ostblocks von Anfang an – um eine soziale Gestaltung des Raums, die sich auch an Kriterien des realen Humanismus bemisst; dass viele der Plattenbauten gleichsam als historische Ruinen heute bloß noch an ­realsozialistische Tristesse erinnern, hat, so zeigt Meuser überzeugend, seinen Grund weniger in der Architektur an sich, sondern in der falschen sozialen, das heißt sozialistischen Planungsgewalt, die politisch bekanntlich eben doch nicht auf den realen Humanismus setzte, sondern schließlich auf dieselbe Verwertungs- und Leistungslogik, die auch den kapitalistischen Westen seit dem 19. Jahrhundert beherrscht.
»Wohnungsbau in der Sowjetunion zwischen Stalin und Glasnost« – ­indes: historisch und geographisch geht Meuser über den im Untertitel seiner Studie gesetzten Rahmen weit hinaus. Im Vorwort heißt es: »Die Arbeit versteht sich aber auch als baukultureller Beitrag zur Wertschätzung einer Alltagsarchitektur, die in der öffentlichen Wahrnehmung gegenüber ikonographischen Gesellschaftsbauten und ihren richtungsweisenden Entwürfen bislang kaum Beachtung gefunden hat. Dabei handelt es sich beim sowjetischen Wohnungsbau um die radikale Ausrichtung des Bauwesens auf Fertigungsweisen, deren Ursprünge auf Erfindungen im kapitalistischen Wesen zurückgehen.«
Die Spuren weisen ins frühe 19. und ausgehende 18. Jahrhundert zurück. Zwischen 1796 (Romanzement) und 1824 (Portlandzement) wird der moderne Baubeton erfunden. 1855 wird ein Boot aus eisenverstärktem Zementmörtel patentiert, 1867 stellt der Bauingenieur und Unternehmer François Coignet auf der Pariser Weltausstellung Träger aus eisenbewehrtem Beton aus. Fortan »verdampft alles Stehende und Ständische«, wie es im »Kommunistischen Manifest« heißt, nicht mehr so leicht: das bürgerliche Zeitalter wird nun, mit all seinen grausamen Widersprüchen, in ein Betonfundament gegossen.
Entscheidend wird dann das Fin de Siècle. Der US-amerikanische Architekt Louis Sullivan, nach dessen Plänen in Chicago die ersten Wolkenkratzer gebaut werden, macht den 1896 geäußerten Spruch »form follows function« berühmt. Es ist dieselbe Zeit, in der die urbanen Metropolen sich auch in der Horizontale immens erweitern und die ersten großflächigen Suburbs entstehen. Zugleich macht sich Kritik an der von der Industrialisierung geprägten Stadt bemerkbar (zuerst Friedrich Engels mit seinem 1845 veröffentlichten Bericht über die »Lage der arbeitenden Klasse in England«); nach Charles Fouriers Vorbild der Phalanstères – einer am Grundriss des Schloss Versailles orientierten Produktions- und Wohngenossenschaft, die im Idealfall 1 620 Mitglieder umfassen sollte – wird etwa im französischen Guise 1883 die Familistère fertiggestellt; Ebenezer Howard konzipiert das Modell der Gartenstadt 1898. 1889 erscheint Camillo Sittes Handbuch »Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen«, das grundlegend die moderne Stadtplanung inspiriert und prägt. Städtische Armut und die sogenannte Wohnungsfrage werden um die Jahrhundertwende erstmals breit und mit stadtplanerischer Konsequenz diskutiert. Die technischen Entwicklungen des Industriekapitalismus machen sich nun auch in der Architektur geltend: Bauen und Wohnen werden Gegenstand von Standardisierung, der sich etablierende Funktionalismus ist zugleich ein – den Fertigungsprinzipien des Taylorismus und Fordismus durchaus verwandter – Rationalismus.
1905 lässt der britische Bauingenieur John Brodie in Letchworth nördlich von London das erste komplett vorgefertigte Wohnhaus aufstellen. Dazu schreibt Meuser: »Brodie, der in der Industriestadt Liverpool zu Hause war und daher die Elendsviertel der Arbeiterklasse aus eigener Erfahrung kannte, hatte eine Bauweise erdacht, mit der in möglichst kurzer Zeit bezahlbarer und nicht gesundheitsgefährdender Wohnraum für arme Bevölkerungsschichten geschaffen werden konnte.«
Nach dem Ersten Weltkrieg wird das Neue Bauen Programm; auch in der frühen Sowjetunion wird mit architektonisch gewagten Sozialutopien experimentiert. In Europa machen das Bauhaus, schließlich Le Corbusier und die CIAM, eine Reihe bedeutender Architekturkongresse, von sich reden. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist es dann das weitgehend auf Erfindungen des Ingenieurs Raymond Camus zurückgehende Plattenbausystem, das die Großsiedlungsarchitektur und den modernen urbanen Wohnungsbau revolutioniert. Entscheidend bei diesem System ist die ökonomische Effizienz: logistische Vorteile und drastische Reduzierung des Montage- und Ausbauaufwands machen es möglich, »etwa 1 000 Wohnungen pro Jahr und Werk« zu fertigen.
Die Sowjetunion übernimmt dieses System für den Wohnungsbau etwa in Moskau, Minsk und Leningrad. In den siebziger und achtziger Jahren wird Taschkent in Usbekistan zum, wie Meuser es nennt, »architektonischen Versuchslabor« für den realsozialistischen Plattenbau: Orientalische, expressionistische, ja postmodern-spielerische Elemente werden in die Bausysteme aufgenommen, das – nicht fertiggestellte – Riesenprojekt Kalkaus ist eine Kombination aus futuristischem Plattenbau und mittelalterlicher Altstadt. Noch heute wird die Stadt als »Freilichtmuseum der sowjetischen Moderne« bezeichnet.
»In unserem Land werden Industriebetriebe, Wohnbauten, Schulen, Krankenhäuser und andere Großstrukturen errichtet. Dieses Bauprogramm ist von entscheidender Bedeutung. Wir sind daher verpflichtet, die Qualität zu verbessern und zugleich die Baukosten zu reduzieren. Um dieses Ziel zu erreichen, gibt es nur den einen Weg: die umfassende Industrialisierung des Bauwesens«, wird Nikita Chruschtschow mit einer Verlautbarung vom 7. Dezember 1964 zitiert. Die Plattenbauweise machte es möglich, nach dem verheerenden Erdbeben 1966 Taschkent als moderne Weltmetropole mit hochwertigen Wohnsiedlungen zügig wiederherzustellen.
Es ist ohnehin die Zeit des Aufbaus. Zugleich die Zeit der Konsolidierung des Spätkapitalismus, die sich in der ebenfalls wirtschaftlich prosperierenden Gesellschaft des riesigen Sowjetreichs spiegelt, und zwar mit allen Konsequenzen. Wie im Westen wird auch im Osten eine Industria­lisierung vorangetrieben, der das Postindustrielle bereits entgegensteuert. Die heroische Verkultung des Proletariats, der Fabrik und der Produktionsleistung gerät mit einer vi­talen Alltagskultur in Konflikt, was zu Widersprüchen zwischen Idee und Wirklichkeit dieser Gesellschaft führt, die insbesondere in der Architektur ihren Ausdruck finden. Die Möglichkeiten des Sozialismus werden mehr und mehr zum Konjunktiv, während die Menschen versuchen, auf je individuelle Weise der Realität ein wenig Leben abzuringen.
Jedoch zeigt die Sowjetarchitektur, zumindest so wie Meuser sie darstellt, im Gegensatz zur Architektur des Realkapitalismus mehr Spielraum, eine Leichtigkeit, die sich sogar im Baumaterial Beton und der Platte erkennen lässt, ein Spielraum und eine Leichtigkeit nämlich, die im Westen bloß nominell über die Postmoderne deklariert, aber nicht realisiert wurde. Die große Zeit des Plattenbaus wird konterkariert etwa durch das Scheitern von Modellsiedlungen wie Pruitt-Igoe in St. Louis, USA, deren notwendige Sprengung 1972 der Architekturtheoretiker Charles Jencks zum Initialdatum des postmodernen Bauens erklärte. Die Hoch- und Spätzeit des realsozialistischen Bauens fällt dann auch mit den Kontroversen zusammen, die heute mit den – bereits in den Sechzigern eingeführten – Schlagworten von Gentrifizierung und »Recht auf Stadt« diskutiert werden.
Mit der Sowjetgesellschaft ist auch die Sowjetarchitektur untergegangen, vorläufig. Die Zeit, in der sich in der Architektur etwas von den ehrlichen Absichten des Sozialismus spiegelte, war allzu kurz bemessen, was die Sowjetunion hätte sein können, blitzte nur für kaum merkliche Augenblicke historisch auf. Was von den Plattenbauprojekten übrig geblieben ist, reicht kaum als Monument der Erinnerung, die Kraft geben könnte, das Unabgegoltene zu retten, nämlich im tatsächlich sozialistischen Sinne fortzusetzen. Meuser hat versucht, dennoch etwas von den Ideen dieser Architektur zu bewahren – auch deshalb spricht er von der »Ästhetik« der Platte; es ist fast schon ein kleines Versteckspiel zu entdecken, auf der Rückseite des Schutzumschlags befindet sich ein ausfaltbares Poster: Nikolai Scharskijs Entwurf für ein Wandmosaik an einem Wohngebäude in Taschkent 1984. Zu sehen ist ein schwebender Kosmonaut, ein Superheld der Arbeit als eisig-blaue Lichtgestalt, ein freundlich-friedlicher Genosse, der wie die evolutionäre Fortsetzung von Michelangelos »Erschaffung Adams« in der Sixtinischen Kapelle anmutet. Es ist der Mensch, der sich selbst schafft und der Welt die Hand reicht; in der anderen Hand hält er ein Atom. Der Hintergrund wirkt in diesem Zusammenhang eher bizarr. Ein in dunkleren Grün- und Brauntönen gehaltenes Schicksalsrad, in dem, umrankt von Sternen, die Tierkreiszeichen ihren Reigen bilden. Es ist wie so vieles im Realsozialismus lediglich Entwurf geblieben.
Wenig soziale Phantasie wäre nötig, um sich vorzustellen, dass in ­einer besseren Welt die Menschen in herrlichen Betonpalästen wohnen werden, in großzügigen Plattenbausiedlungen, die halb sozialistischer Kibbuz, halb humanistisches New Babylon sein können, wo das Leben blüht und nicht die schnöde Ökonomie des Kapitals, wo Gärten und Parks zum Verweilen einladen und selbstverständlich niemand nach heutigen Vorstellungen und Zwängen arbeitet – und erst recht niemand, mit Marx gesprochen, »ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen« ist. Die Zeiten des Elends wären vorbei, endgültig. Allein, es fehlt selbst das kleinste Quentchen solcher sozialen Phantasie. Und mittlerweile ist jede Utopie noch so weit suspendiert, dass nicht einmal mehr Luftschlösser gebaut werden, geschweige denn welche aus Beton.
Philipp Meuser: Die Ästhetik der Platte. Wohnungsbau in der Sowjetunion zwischen Stalin und Glasnost. Berlin 2016, DOM ­publishers, 728 ­Seiten, 98 Euro