Die Comicreihe »Love and Rockets«

Die Schatten der Vergangenheit

Anfang der achtziger Jahre ins Leben gerufen, übt die Serie »Love and Rockets« bis heute Einfluss auf das Comic-Genre aus. An die Stelle von Superhelden traten Punks, Latinos und homosexuelle Beziehungen.

Meist wird von Schallplatten, Filmen und Romanen gesprochen, wenn von einschneidenden Ereignissen der eigenen popkulturellen Sozialisation die Rede ist. Eher selten werden Comics angeführt und wenn, dann meist nur die Begeisterung für die frankobelgischen Klassiker oder ­Superhelden. Die Veröffentlichung zweier Bände der »Love and Rockets«-Reihe erinnert daran, dass es da auch anderes gibt.
Zum 25jährigen Jubiläum wird »Der Tod von Speedy«, der 1991 als erster Titel des Verlages Reprodukt erschien, wieder aufgelegt, ergänzt durch den neueren Band »Liebe und Versagen«. Als die Brüder Gilbert, Jaime und Mario Hernandez »Love and Rockets« Anfang der Achtziger ins Leben riefen, gab es kaum logis­tische oder publizistische Möglichkeiten für diese Art von Comicreihe. Der Markt wurde von den Branchenriesen Marvel und DC kontrolliert. Underground-Comics wurden nur über Headshops vertrieben und hatten ihre besten Zeiten bereits hinter sich.
Die Brüder hatten, der großen Leidenschaft ihrer Mutter folgend, einen großen Teil ihrer Kindheit und Jugend mit dem ausgiebigen Studium von Comics aller möglichen Stilrichtungen von Jack Kirby bis Robert Crumb verbracht und es stellte sich schnell heraus, dass vor allem Gilbert und Jaime Hernandez auch selbst zeichnen wollten. Mit Kenntnis der bisherigen Comictraditionen, ergänzt um die Aufbruchstimmung und Ästhetik von Punk und DIY – ihr erstes Titelbild etwa war eine Referenz an das von Raymond Pettibon gestaltete Plattencover von Black Flags »Nervous Breakdown« – begannen sie 1981, ihre Hefte unter dem Titel »Love and Rockets« selbst zu produzieren und zu veröffentlichen. Nur kurze Zeit später zeigte der bis dahin lediglich das Comics Journal publizierende Verlag Fantagraphics Interesse und nahm »Love and Rockets« 1982 ins Programm auf.
Parallel zur Entstehung unabhängiger Plattenlabels wie SST oder Rough Trade entwickelte sich Fantagraphics in den Folgejahren zu einem bedeutenden und einflussreichen Independent-Comicverlag, der die Reihe bis heute publiziert.
Während Gilbert in den Heften der Reihe die eher schwermütig und melancholisch gehaltenen Geschichten des gottverlassenen mexikanischen Nests Palomar erzählte, begann Jaime mit einer Mischung aus Science-Fiction und Abenteuergeschichten. Maggie Chascarrillo, seine bis heute wohl wichtigste Figur, arbeitet in den ersten Jahren entweder als Prosolar-Mechanikerin oder hängt in der südkalifornischen Vorstadt mit anderen Dropouts herum – vor allem mit ihrer Freundin und On-off-Liebhaberin, Punkrock-Rotzlöffel Hopey Glass.
Spätestens ab Ende der achtziger Jahre wandelte sich Jaimes Schwerpunkt: Raketen, Roboter und Dinosaurier verloren in den Geschichten an Bedeutung und die ganz gewöhnliche Lebenswelt der wichtigsten Figuren Maggie, Hopey und Ray rückte mehr und mehr in den Fokus. »Der Tod von Speedy« stellt hierbei einen wichtigen Einschnitt dar.
Das Album fängt ganz die romantisch-naive Atmosphäre der aufregenden Zeit zwischen Schule und Erwachsenwerden ein. Es wird von ­einem Bandenkrieg zwischen zwei Jugendgangs erzählt, ausgelöst durch ein von Maggies Schwester und Speedy produziertes Beziehungswirrwarr, das für einige der machistischen Protagonisten nicht zu verkraften ist. Darüber hinaus finden sich im Band Geschichten über das trostlose Leben von Hopeys Band auf Tour sowie über Maggies familiär begründetes Intermezzo in der bizarr-bezaubernden Welt des Wrestlings. Die Graphic Novel endet schließlich mit der sich kompliziert gestaltenden Liebesgeschichte von Maggie und Ray.
Neu und ungewöhnlich war dabei die Repräsentation des anderen Amerika in Form der Punk- und Latinokultur in den Vorstädten von L.A. und den USA im Allgemeinen, die zu diesem Zeitpunkt kaum in den Medien des Mainstream vorkam. Gleiches gilt für die offen lesbische Beziehung zwischen Maggie und Hopey, die – anders als etwa in den Underground-Comics – nicht als Provokation eingesetzt wurde, sondern sich aus dem Begehren der Protagonistinnen ergab. Die US-amerikanische Comiczeichnerin und Autorin Alison Bechdel, bekannt vor allem durch ihre autobiographische Graphic Novel »Fun Home« und den sogenannten Bechdel-Test, einen Kriterienkatalog zur Beurteilung von Frauenbildern im Spielfilm, bemerkte einmal, dass sie zunächst nur genervt abgewunken habe, als ihr von dem »neuen Comic mit den zwei Frauen« erzählt wurde. Sie befürchtete zunächst die Reproduktion von Männerphantasien. Die Komplexität, Widersprüchlichkeit und Ausdrucksstärke der beiden Protagonistinnen sowie die wunderschönen Zeichnungen habe sie aber sehr schnell zum Fan der Serie werden lassen.
In diesem Sinne wandelte sich auch die Erzählweise: Jaime Hernandez wandte sich vom typischen Actionplot des traditionellen Comics ab und rückte die soziale und emotionale Entwicklung der Charaktere und ihre Beziehungen in den Mittelpunkt. Vermittelt wurde dies teils über ausführliche Dialoge und Wortwitz als elementare Bestandteile der Erzählungen. Ergänzend dazu schuf Hernandez eine verführerische, in reinem Schwarzweiß gehaltene, perfekt komponierte Bildsprache und bringt damit bis heute die subtilen Möglichkeiten des Genres zur Geltung. Er hat es etwa nicht nötig, Speedys Tod überhaupt abzubilden, das angedeutete Abschiednehmen von einigen Personen und das bloße Aufziehen eines Vorhangs reichen aus, um das Geschehene deutlich zu machen – geradezu das Gegenteil des kraftmeierischen Gescheppers der Superheldengeschichten. Ein weiteres bemerkenswertes Stilmittel stellt ein unvermittelt eingeschobenes Panel mit zwei Hunden dar, die das tragische Ende Speedys bereits vorausahnen und kommentieren, ähnlich dem Chor in der griechischen Tragödie.
Genau wie »Der Tod von Speedy« wird auch »Liebe und Versagen« von Fans und Kritikern als Klassiker gehandelt. Zwischen den beiden Bänden liegen 25 Jahre und Hunderte von Seiten, in denen die Serie weitererzählt wurde. Im zwar gut lesbaren, aber aufgrund der vielen Verweise doch voraussetzungsvolleren Band wird die Liebesgeschichte von Maggie und Ray, beide mittlerweile in ihren Vierzigern, wiederaufgenommen und weitergeführt. Zwei zusätzliche Episoden erzählen bedeutende, furchtbare Geschichten aus Maggies Kindheit und Jugend, die auf die bisherige Handlung bereits ihre Schatten warfen, aber zuvor nicht explizit dargestellt wurden. So wird ein weiteres zentrales Thema der Serie deutlich: mit welcher Kraft sich die Vergangenheit, die eigene Geschichte noch auf die Gegenwart auswirkt.
Seit Beginn ist Hernandez’ Erzählweise von jumpcuts, harten Schnitten in Raum und Zeit, geprägt, die Neuleserinnen und -leser sicherlich etwas verwirren können. Sie funk­tionieren aber als Technik, die das Verhältnis von Gegenwart und Vergangenheit untersucht und ausdifferenziert, ausgesprochen gut. Auch weil es neben den erwähnten Figuren unzählige weitere gibt, die mal mehr, mal weniger im Mittelpunkt stehen. Mit dem etwa dem Erscheinungsdatum entsprechenden Älterwerden der Seriencharaktere wird die beschriebene Welt immer komplexer und vielschichtiger – es gibt nicht die eine Perspektive oder den einen Erzählstrang, sondern viele neben- und ineinanderlaufende.
Unterstützt wird dies vom mittlerweile perfektionierten Zeichenstil. Der Schwarzweißkontrast bleibt zentrales Merkmal, die Zeichnungen kommen aber mit weniger Linien, Schraffuren oder Effekten aus, sind virtuos auf das Wesentliche reduziert. Der ständige Wechsel, die Verbindung von realistischen und cartoonhaften Elementen setzen die tragisch-komische Handlung perfekt in Szene.
Es ist erstaunlich, dass »Love and Rockets« hierzulande kaum bekannt ist und das Interesse, nachdem es sich im Zuge der Erstveröffentlichungen in den Neunzigern auf einen kleinen Kreis in der Kunst- und Kulturszene beschränkte, dann wieder völlig verschwand. Der Einfluss der Reihe auf das, was heute Graphic Novel genannt wird, und darauf, was mit Comics alles möglich ist, könnte kaum größer sein. Der mittlerweile relativ üblich erscheinende Fokus auf mexikanischstämmige Protagonistinnen und Protagonisten, die hauptsächlich weiblichen Hauptrollen oder die Beschreibung von Alltagssituationen waren in der Comicwelt der achtziger Jahre nahezu unbekannt. Auch der Vertrieb in Eigenregie oder über einen unabhängigen Verlag eröffnete Möglichkeiten für die folgenden Generationen von Zeichnerinnen und Zeichnern. Die größte Besonderheit der Serie stellt aber die über Jahrzehnte hinweg erzählte Geschichte dar – ihre Protagonistinnen und Protagonisten gehören zu den spannendsten und faszinierendsten der Comicgeschichte. Trotz der vielen Zumutungen und Kämpfe, die das Leben für Maggie und ihr Umfeld bereithält, gelingt es ihr, und in diesem Sinne auch Jaime Hernandez, in Würde zu altern. Es ist berührend, traurig und schön zugleich, ihnen dabei Gesellschaft leisten zu können. Zu hoffen wäre, dass der Verlag in Zukunft weitere Bände – auch vom an dieser Stelle vernachlässigten Gilbert Hernandez – veröffentlichen wird.
Jaime Hernandez: Love and Rockets – Der Tod von Speedy. Aus dem amerikanischen Englisch von Oliver Köll. Berlin 2016, Verlag Reprodukt, 136 Seiten, 24 Euro
Jaime Hernandez: Love and Rockets – Liebe und Versagen. Aus dem amerikanischen Englisch von Conny Lösch. Berlin 2016, Verlag Reprodukt, 112 Seiten, 24 Euro