über den islamistischen Hintergrund des Massakers in Orlando

Ideologie der Todesliebe

Nach den Attentaten von Orlando und Paris wird über die Frage debattiert, ob es sich bei den neuen Tätern um »einsame Wölfe«, »Soldaten des Kalifats« oder um verwirrte junge Männer handelt. Dabei liegt deren politische Motivation auf der Hand.

Am 12. Juni tötete Omar Mateen 49 Menschen im Nachtclub »Pulse« in Orlando, am 14. Juni Larossi Abballa ein Paar in Nähe von Paris. Obwohl sich der »Islamische Staat« (IS) zu beiden Verbrechen bekannte, haben die nachfolgenden Debatten die Unsicherheit und die Ratlosigkeit im Umgang damit eher verstärkt. Die Unsicherheit hat mit dem antimuslimischen Populismus der Trumps, Wilders und Gaulands zu tun: »Spielt, wer den Terror mit dem Islam in Verbindung bringt, nicht einem Rassisten wie Donald Trump in der Hände?« fragen die einen. »Sabotiert, wer diesen Zusammenhang leugnet, nicht die notwendige Gegenwehr?« erwidern die anderen. Die Ratlosigkeit hängt mit der Wahrnehmung der jüngsten Verbrechen zusammen. Viele bezweifeln, dass in Orlando tatsächlich der IS zugeschlagen hat. Man habe es mit »einsamen Wölfen« zu tun, die »eher mit Amokläufern« zu vergleichen seien, schreibt beispielsweise die Zeit. Es handle sich um Terror, der »nichts will«, dessen Ziel also »der pure Schrecken« sei.
Wer so argumentiert, klammert die Erklärungen des IS aus – Erklärungen, in denen er das Ziel der Massaker klar und zwecklogisch benennt: Sie sollen die Regierungen der Anti-IS-Koalition dazu nötigen, ihre Luftschläge auf den IS im Irak und in Syrien zu beenden. Eben deshalb rief IS-Sprecher Sheikh Abu Muhammad al-Adnani im Mai die IS-Sympathisanten im Westen dazu auf, nicht länger nach Syrien zu strömen, sondern sich als »Soldaten des Kalifats« aufs Blutvergießen im eigenen Land zu verlegen. Al-Adnanis Erklärung umfasst zehn Seiten und ist mit Koran- und Hadithverweisen gespickt. Sie beginnt mit einer Attacke auf die Juden und auf ­Barack Obama, »dem Maulesel der Juden«. Sie beschreibt anschließend die Angriffe, die der IS zu erleiden hatte und ruft schließlich dazu auf, den diesjährigen Fastenmonat Ramadan (6. Juni bis 6. Juli) blutig zu begehen: »Lasst uns einen Monat des Leidens für die Ungläubigen überall bereiten. Erschreckt und terrorisiert sie so lange, bis jeder Nachbar Angst vor seinem Nachbarn hat. Wisset, dass innerhalb der Länder der kriegerischen Kreuzfahrer sogenannte Unschuldige nicht existieren. Wisset, dass, wenn ihr euch auf sogenannte Zivilisten konzentriert, wir das besonders schätzen, weil es effektiver ist: Es fügt ihnen mehr Schaden und Schmerz zu und schreckt sie besser ab. So geht voran, oh ihr Märtyrer, wo immer ihr seid.« Für den IS ist der Terror also kein Selbstzweck, sondern eine gezielt eingesetzte Waffe im religiösen Krieg. Taktisch soll sie die Staaten, die den IS militärisch angreifen, zu einem Kurswechsel veranlassen und strategisch die globale Unterordnung unter Allah ­(al-Adnani: »We will fight, and fight, and fight, until the religion is entirely for Allah«) vorantreiben.
Larossi Abballa, der einen Polizei­beamten und dessen Lebensgefährtin bei Paris umbrachte, deutete das taktische Ziel in seinem Abschiedsvideo an: »Mein Angriff ist die Konsequenz aus euren Aktionen. Ihr habt die Türen zum Kalifat (d. h. die Auswanderung in IS-Gebiete, Anm. d. A.) verschlossen, also haben wir die Tür des Jihad in eurem Land geöffnet. Dachtet ihr, wir würden hier herumsitzen und warten?« Gleichzeitig hob er die Todesliebe – das Kennzeichen dieses religiösen Kriegs – hervor: »Schau nur, Muslim, alles was du tun musst, ist voranzugehen und zu sterben – dann wirst du mit deinem Propheten im Paradies sein. Von da an wird es keinen weiteren ­Ärger geben, keine weiteren Herausforderungen, nur Vergnügen ohne Ende. Selbst wenn uns Allah 1 000 oder 100 000 Lebensjahre gegeben hätte, wären diese im Vergleich zum Jenseits bedeutungslos. Das Jenseits ist unendlich. Möge mich Allah akzeptieren, inshallah.« Von dieser Todesliebe war auch Omar Mateen infiziert, der 49 Besucher eines bekannten LGBT-Clubs in Orlando erschoss. »Möge mich Allah akzeptieren« – lautete auch hier des Attentäters letzter Wunsch. Auch wenn er nach bisherigem Wissen keine IS-Ausbildung durchlief, war er kein einsamer Wolf, sondern seit langem in islamistischen Netzwerken zu Hause: Nachdem er sich – radikalisiert durch islamistische Internet-Portale – gegenüber Kollegen zu al-Qaida und Hisbollah bekannt hatte, besuchte ihn bereits 2013 das FBI. 2014 geriet Mateen erneut ins Visier der Sicherheitsbehörden, da er mit dem ersten Amerikaner, der in Syrien ein Selbstmordattentat beging, in Ver­bindung stand. Am Tag des Massakers schwor er dem »Kalifen« des IS, Abu Bakr al-Baghdadi, Gefolgschaft.
Erstaunlicherweise charakterisierten nicht nur Beobachter in Deutschland, sondern auch der amerikanische Präsident den Täter von Orlando als »einen wütenden, verwirrten, labilen jungen Mann«, so als habe seine Tat mit dem fanatischen Hass der Islamisten auf Nachtclubs, Lebensfreude und Homosexualität nichts zu tun. Barack Obama beschwerte sich darüber, dass man von ihm verlange, die Worte »radikaler Islam« zu benutzen. »Was würden wir erreichen, wenn wir dieses Etikett verwendeten?« entgegnete er seinen Kritikern. »Was würde sich ändern? Würden wir mehr Verbündete gewinnen? Gibt es eine militärische Strategie, der das dienen würde?« Den Jihadismus und dessen Ideologie präzise zu bestimmen, ist Voraussetzung, um das Ausmaß der potentiellen Gefahr zu ermessen. Mit der Charakterisierung des Terrors als islamistisch würde das Weiße Haus Verbündete gewinnen – unter anderem diejenigen Muslime, die unter islamistischen Anführern leiden oder sich für eine historisch-kritische Neuinterpretation des Koran einsetzen.
Je mehr der schiitische und sunnitische Islamismus in den vergangenen Jahren an Einfluss gewann, desto grotesker wurden Obamas Versuche, die Rolle der Religion für den Jihadismus kleinzureden und desto fruchtbarer wurde der Boden für den Demagogen Donald Trump. Obamas Verharmlosung des Islamismus kontert Trump mit der Dämonisierung des Islam: Sein antimuslimischer Populismus ist das verheerende Resultat einer Politik, die sich scheut, die Dinge mit Rücksicht auf »den Islam« beim Namen zu nennen. Eine ähnliche Logik von Ursache und Wirkung ist auch in Deutschland evident. Auch hier existiert jene Glaubwürdigkeitslücke. Sie wird von der rechtskonservativen Alternative für Deutschland (AfD) gefüllt. Daraus erwächst ein mögliches Problem: Kritiker des Islamismus könnten es vorziehen, über den Islamismus zu schweigen, um nicht in den Verdacht zu geraten, Kräften wie der AfD als Stichwortgeber zu dienen.
In Wirklichkeit aber bereiten auch die antimuslimischen Populisten den Islamisten den Weg. Donald Trump, der Muslimen die Einreise in die USA verbieten will, bestätigt mit seiner Forderung das islamistische Credo, wonach der Krieg gegen die »Ungläubigen« unvermeidbar sei. Auch die AfD geht mit ihrer Pauschalkritik am Islam einer gezielten Jhadismus-Bekämpfung aus dem Weg. Ihre Dämonisierung des Islam trägt zur Verharmlosung des Islamismus bei – einer Verharmlosung, wie man sie mit der lonely-wolf- These nach Orlando erneut erlebt. In Wirklichkeit gibt es für Ratlosigkeit auch nach Orlando keinen Grund. ­Natürlich müssen weitere Massaker der »Soldaten des Kalifats« verhindert werden. Doch dazu wird auch die ehrgeizigste Polizeiüberwachung nicht in der Lage sein. Es gibt keinen anderen Weg, als das Übel an seiner Wurzel zu packen. Der Sieg über den IS setzt ­jedoch den Sturz von Bashar al-Assad und damit die Konfrontation mit ­Teheran und Moskau, Assads wichtigsten Unterstützern, voraus.