Die Reaktionen in Türkei nach dem gescheiterten Putschversuch

Der Oberkommandant hat immer recht

Nach dem Putschversuch in der Türkei inszeniert sich die autoritäre Regierung als Retterin der Demokratie und nutzt den Angriff zur Ausschaltung ihrer Gegner.

Konvois hupender Anhänger der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) touren seit dem Wochenende durch Istanbul, besonders gern durchstreifen sie das Innenstadtviertel Beyoğlu. Wehende türkische Fahnen, Hupkonzerte, Sprechchöre für die Freiheit, religiöse Glaubensbekenntnisse und nationalistische Parolen flankieren sie. Die Bewohner des Szeneviertels sind entweder in den Ferien oder ziehen es in dieser Woche vor, wenig aus dem Haus zu gehen. Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat »das Volk« aufgerufen, auf öffentlichen Plätzen Präsenz zu zeigen. Es sind vor allem Anhänger radikaler Vereine wie der »Osmanischen Heimstätten« und der AKP-Jugendorganisationen. Es drängt sich der Eindruck auf, es gehe zwei Jahre nach der beispiellosen Niederknüpplung der demokratieorientierten pluralistischen Gezi-Bewegung durch Tränengas, Polizeigewalt und juristische Verfolgung um eine Machtdemonstration auf dem Taksim-Platz. Auf den der AKP nahestehenden Seiten in den sozialen Medien werden Schmähreden gegen die Unterstützer der Gezi-Bewegung gehalten. »Wo sind sie denn jetzt, um die Demokratie zu verteidigen?« heißt es dort. »Feige, reiche Pinkel« und ähnliche Abfälligkeiten zeigen, dass von einem geeinten Volksaufstand gegen den Umsturzversuch in der Türkei nicht die Rede sein kann.
Soldaten und Panzer besetzten in der Freitagnacht voriger Woche strategische Plätze in Istanbul und Ankara, auch Teile der Luftwaffe waren beteiligt. Es kam zu Kämpfen mit regierungstreuen Polizei- und Militäreinheiten, binnen weniger Stunden wurde der Putschversuch niedergeschlagen. Viele Fragen hinsichtlich der Hintergründe bleiben offen. Handelt es sich um eine Verschwörung der islamistischen Bewegung von Fethullah Gülen, wie es die Regierung suggeriert? Oder ist der Putsch gar unter geheimdienstlicher Beobachtung begleitet und mitinszeniert worden? Ein ehemaliger Politiker der Republikanischen Volkspartei (CHP), Tahar Erdem, unterstreicht auf der Online-Plattform T24, dass solche Spekulationen zu diesem Zeitpunkt nirgendwo hinführen. Ganz klar aber habe ein Putsch gegen die türkische Demokratie stattgefunden und sei eben nicht, wie es gerade von der Regierung behauptet werde, verhindert worden. »Tausende Beamte und Angestellte des öffentlichen Dienstes sind wegen Verwicklungen in den Putsch suspendiert worden, einige sind in Untersuchungshaft. Das hat nichts mit ihrem Fehlverhalten zu tun, sondern dient als Vorwand, sich der nicht Getreuen in der Justiz, der Armee und anderer Institutionen zu entledigen«, so Erdem. Der Vorsitzende des Vereins für eine demokratische Justiz, Orhan Gazi Ertekin, betont: »Wenn ein Drittel des Justizapparats angeblich von Terroristen dominiert wurde, dann müssten jetzt eigentlich ein Drittel aller Prozesse revidiert werden.«
Ohne Zweifel nutzt die türkische Regierung die staatlichen Institutionen im Kampf gegen die vermeintliche Putschisten-Gefahr, um genau die Formen autoritärer Herrschaft für sich zu beanspruchen, die sie und ihre Anhänger gerade behaupten, abgewendet zu haben. Statt Werte der Demokratie herauszustellen, gefielen sich sowohl Ministerpräsident Binali Yıldırım als auch Präsident Erdoğan Anfang dieser Woche in der Rolle der Imperatoren, die die rollenden Köpfe der Gegner fordern, wenn sie Massenapplaus wollen. Auf den Beerdigungen einiger bei Gefechten in der Putschnacht getöteter Polizisten suggerierten beide, die Bevölkerung entscheide über das Für und Wider der Wiedereinführung der Todesstrafe. Gleichzeitig agitierten AKP-Trolle im Internet mit Bildern eines Gehenkten, der die Züge des Islamistenführers Fet­hullah Gülen trägt. Am Atatürk-Flughafen hängten AKP-Anhänger demonstrativ eine entsprechende Puppe an einem Strick auf.
»Die Menge auf den Plätzen wird von den ultrakonservativen krakeelenden Querelen der AKP dominiert«, sagte der Vorsitzende der Demokratischen Volkspartei (HDP), Selahattin Demirtaş, in einem Interview mit der prokurdischen Zeitung Özgür Gündem am Montag. Bereits in der Nacht vom 15. auf den 16. Juli, nachdem im staatlichen Fernsehsender TRT die Nachricht verlesen worden war, das Militär hätte aufgrund der demokratiefeindlichen Aktivitäten der Regierung soeben die Macht übernommen, hatte sich Demirtaş klar gegen den Putsch positioniert. Dennoch wurden im ganzen Land einzelne Büros der HDP wieder Zielscheibe der AKP nahestehender Hooligans. Auch Aleviten, Christen und syrische Flüchtlinge wurden vereinzelt Opfer von Übergriffen im ganzen Land. »Nach der Niederschlagung des Putsches wird deutlich werden, dass der Putsch aus den Kasernen schon längst von einem zivilen Putsch aus dem Palast vorweggenommen und überrundet worden ist«, so Demirtaş. Er spielte damit auf die überdimensionale Präsidentenresidenz in Ankara an.
Alle Parteien verurteilten Anfang der Woche geschlossen die mutmaßlichen Putschisten aus den Reihen des Militärs. Das Motto des auch von Nicht-AKP-Anhängern in sozialen Medien am meisten geteilten Hashtags lautete zunächst »Nie wieder Putsch«. Das aggressive Auftreten der AKP-Anhänger in der Öffentlichkeit und in sozialen Medien ließ bei vielen Oppositionellen jedoch immer wieder das Motiv des deutschen Reichstagsbrandes von 1933 als Parallele auftauchen. Die Künstlerin Meryem B. schrieb auf Facebook, dass das grölende, testosterongesteuerte Platzhirschverhalten der AKP-Anhänger sie an die SA in Nazideutschland erinnere und so überhaupt nichts mit Demokratie und Freiheit zu tun habe. Ob der Mord an Cemil Candas (CHP), dem Vizebürgermeister des Istanbuler Stadtteils Şişli, in Zusammenhang mit dem Putschversuch stand, ist noch nicht geklärt. Er war am Montag in seinem Büro in den Kopf geschossen worden und starb kurze Zeit später.
In der AKP nahestehenden Gruppen dominiert in den sozialen Medien der Siegestaumel. Nationalflaggen wehen als Banner des »Sieges der Freiheit«. Es werden vor allem Fotos geteilt, auf denen Zivilisten von auf der Bosporus-Brücke positionierten jungen Soldaten beschossen werden. Blut und Tränen vermittelten ein Bild des ungleichen Kampfs von David gegen Goliath. Das Foto eines islamistischen Demonstranten bei den Jubelfeiern transportierte das dazugehörende Pathos: Ein schmächtiger Mann mit einem Schnurrbart hat sich in ein weißes Tuch gehüllt, auf dem in schwarzer Farbe geschrieben steht: »Wir haben diesen Weg mit Leichentüchern betreten.«
Auf den oppositionellen Websites verbreiteten sich am Morgen nach dem Putsch äquivalente ideologisch gefärbte Übertreibungen. Neben authentischen Bildern von einer rasenden Menschenmenge, die auf verängstigte Wehrdienstleistende eindrischt, kursierten Bilder eines enthaupteten Soldaten. Er sei auf der Bosporus-Brücke von einem »IS-Anhänger und seinen Kumpanen« ermordet worden. Die grausamen Bilder zeigen aber keinen türkischen, sondern einen in Aleppo geköpften jungen syrischen Soldaten. Der vermeintlich getötete Burak S. beschwerte sich schließlich in den Medien deutlich über den Missbrauch eines Fotos aus dem Jahr 2014, das ihn während seines Militärdienstes im ostanatolischen Siverek zeigt. Propagandisten hatten es von seiner Seite geklaut und als Vorher-nachher-Bild mit der Enthauptungsszene verbunden.
Die stärkere Polarisierung ist wohl das Hauptresultat der Putschnacht. Die türkische Führung tut alles dafür, ihre Anhängerschaft mit Feindbildern aufzustacheln. Fethullah Gülen, ein in den USA lebender Islamistenführer, der in den neunziger Jahren ein Medienimperium in der Türkei aufbaute und dessen Anhänger sowohl in der Türkei als auch international religiöse Internate und Schulen unterhalten, war früher ein Verbündeter der AKP. Seine Anhänger im Staatsapparat und in der Justiz halfen in Schauprozessen bei der Anklage vieler Mitglieder des Militärapparates. Doch als die Gülen-Bewegung nach dem Verbot einiger ihrer Schulen im Dezember 2014 einen Korruptionsskandal um den engsten Kreis von Präsident Erdoğan aufdeckte, brach ein offener Konflikt aus. Die türkische Führung fordert nun die Auslieferung des 75jährigen Gülen. Erdoğan drohte am Montag mit Konsequenzen bei der Kooperation im Kampf gegen den Terror, wenn die USA dieser Forderung nicht nachkämen. Die US-Regierung reagierte kühl.
Erdoğan befürchtet, dass das Ausmaß der Korruption im Land international thematisiert werden könnte. Im März wurde in Miami der in der Türkei lebende iranische Geschäftsmann Reza Zarrab festgenommen. Ihm werden Geldwäsche und ein Unterlaufen des US-amerikanischen Embargos vorgeworfen. In den Fokus rückte er während des von der Gülen-Bewegung enthüllten Korruptionsskandals, immer wieder thematisierte die der Bewegung nahestehende Tageszeitung Zaman Verbindungen von Zarrab zu Bilal Erdoğan, dem Sohn des Präsidenten. Parallel zur Verhaftung des Iraners wurde das Verlagsgebäude von Zaman im März von der Polizei gestürmt, die Chefredaktion wurde festgenommen. Mittlerweile unterstehen Redaktion und Verlag richterlich bestellten regierungsnahen Managern, die Zeitung berichtet in diesen Tagen linientreu von der siegreichen Befreiung des Volkes vom Joch der Putschisten durch den »Oberkommandanten Erdoğan«.