Die Dialektik von Dub und Reggae in der Musik Roger Robinson

Einmal durchziehen, bitte

Der britische Dub-Poet Roger Robinson lässt die Wolken über dem Publikum zusammenschlagen.

Schwere Bässe wabern durch die schwüle Luft. Die Wolken ballen sich am Himmel, der grüngraue Horizont leuchtet auf. Da behaupte noch jemand, dass Musik nicht die Umwelt verändern kann. Aber so wie Disrupt, der hier mit dem Dub-Poeten Roger Robinson die Dachterrasse des Berliner Hauses der Kulturen der Welt (HKW) mit scharfkantigen Stolperbeats beschallt, ließe sich fast glauben, die Musik habe den Blitz erzeugt, der den Himmel über dem Regierungsviertel so apokalyptisch aussehen lässt. Gründe, um wütend auf die Politik zu sein, hat Robinson jedenfalls genug.
Erstmal gilt: »Turn up the bass, the people need it.« Robinson hat Recht, die Leute brauchen mehr Bass, denn sie flüchten in Scharen unter das Dach, als der Regen einsetzt. Das Konzert wird unterbrochen. Niemand möchte nass werden, zumal das Dub-Duo ohnehin eher als Support für den jamaikanischen Reggae-Pionier Ernest Ranglin da ist, der im Rahmen des Wassermusik-Festivals auftreten wird. So erklärt sich auch die verrückte Mischung, die es im dichtgedrängten Publikum zu sehen gibt: Weltladen-Kunden, hippe Clubgänger, viele Kinder, kleine wie große, angegraute Reggae-Fans und zwangslockere Anzugträger, die noch mitten in der komplizierten Feierabend-Smalltalk-Choreographie stecken, als sie nach zehn Minuten Pause von den dubbigen Störgeräuschen aufgeschreckt werden. Das Duo ist zurück und siehe da: Das Warten hat den Leuten zu einer gewissen Lässigkeit verholfen. Einige haben begonnen zu tanzen. Endlich.
Denn Robinson und Disrupt haben die Dialektik, die Dub und Reggae seit jeher innewohnt, perfektioniert. Es ist zugleich Kopf- und Körpermusik. Während die Texte gesellschaftliche Missstände anprangern, stolpert die Musik meistens gut-, manchmal schlechtgelaunt, immer aber mit einem erschütternden Groove und einem erotischen Bass durch die Gegend.
Das Soloprojekt von Robinson, der in London geboren wurde, aber zeit Lebens zwischen England und Trinidad pendelt, ist eine modernisierte Form traditioneller Dubmusik aus den siebziger Jahren. Auf dem 2015 erschienenen Debütalbum »Dis Side ah Town« verschaltet er seine mal gesprochenen, mal im Falsett gesungenen Gedichte mit den entschlackten Beats des Leipziger Dub-Künstlers Disrupt, bekannt als Betreiber des international renommierten Labels Jahtari.
Das Album basiert weitgehend auf Texten, die Robinson 2011 unter dem Eindruck der Unruhen in London schrieb. Die Proteste infolge der Tötung von Mark Duggan durch einen Polizisten prägen ihn bis heute. Weil erstmals all die Wut sichtbar wurde, die er auf seinen täglichen Streifzügen durch die englische Metropole beobachtet. Thematischer Fokus ist neben der abgehängten Jugend, für die Bildung immer teurer wird, vor allem die Auswirkungen der Gentrifizierung im Süden und Osten Londons.
Der Sänger ist damit auch ein Nachkomme von Linton Kwesi Johnson, der 1980 mit »Inglan Is a Bitch« zu einer Stimme der diskriminierten schwarzen britischen Jugend wurde. »Ich würde aber nicht sagen, dass es ein politisches Album ist, es ist eher ein politisiertes«, sagt Robinson in der Lobby eines Berliner Hotels. Predigen wolle er nicht, sondern Geschichten erzählen.
Dass es nicht einfach ist, die dünne Linie zwischen Kunst und Moral zu ziehen, weiß er gut. Mit dem Dichten begann er schon als Teenager. In Trinidad, wo er im Alter von drei bis 19 Jahren lebte, war er in der Rapso-Szene aktiv, eine in den siebziger Jahren entstandene Kreuzung aus Calypso und rhythmischem Sprechgesang. In London besuchte er regelmäßig Open-Mic-Nächte, publizierte Gedichtbände und ging auf Lesetouren. Sein erstes Solowerk, das 2004 erschienene »Illclectica«, war ein abstraktes HipHop-Album.
Dann begann er, als Sänger zu reüssieren. Auch wenn es eher spontan war: »Ich schrieb Texte für Bands und verbrachte viel Zeit in Studios und eines Tages, bei einer Aufnahme mit der TripHop-Band Speeka, kam der Sänger zu spät und sie fragten mich, ob ich nicht übernehmen wollte.«
Größere internationale Aufmerksamkeit erfuhr er 2009, als er zusammen mit dem heutigen Wahl-Berliner The Bug und der japanischen Sängerin Kiki Hitomi die Band King Midas Sound gründete. Das Debüt­album »Waiting for You« handelte ebenfalls von London und der extremen Ungleichheit in der Stadt.
Während das neue Soloalbum die Stimmen der Stadt einfängt, war »Waiting for You« wie ein Soundtrack der Stadt. »Damals hatten wir unser Studio im Stadtteil Bow in East London, einer Hochburg für Cracksüchtige.« Dass sich das auf die Musik auswirkte, hört man der Platte bis heute an. Zähflüssige Soundschichten treffen auf Slow-Motion-Beats und vernebelte Stimmen und im Hintergrund sorgt ein Grundrauschen für ein stetiges Gefühl der Bedrohung, wie an einer schlecht ausgeleuchteten Straßenecke in einer fremden Stadt.
Mittlerweile sei die Gentrifizierung bis nach Bow vorgedrungen. Er habe nichts gegen Stadtentwicklung, aber ihn störe, dass die Menschen nicht gefragt oder in stadtpolitische Entscheidungen einbezogen würden. »Es werden ganze Communities vertrieben.« Brixton sei mal ein sehr gemischtes Viertel gewesen – heute nur noch ein Reichenparadies. Unter 1 000 Pfund Miete findet man dort inzwischen nicht mal mehr ein Zimmer.
Bei allem Unbehagen ist Robinson bewusst, dass die Entwicklung ambivalent und er als Künstler nicht unbeteiligt ist. Eigentlich trage er eine Mitschuld, sagt er. Vor rund 20 Jahren lebte er in Ilford außerhalb des Stadtzentrums. Als Teil des Kollektivs Urban Poet Society wurde er eines Tages von der Stadtverwaltung gefragt, ob sie nicht in ein altes Fabrikgebäude einziehen möchten, mit Studios, neuen Sanitäranlagen und einem Konzertclub. Sie überlegten nicht lange. Sie mussten keine Miete zahlen und konnten im Zentrum von East London leben, in Shoreditch. Als nach ein paar Jahren die ersten Investoren Häuser kauften und sanierten, wurde dem Musiker klar, dass er zur ersten Generation von Künstlern gehörte, die halb freiwillig, halb ungewollt an der Aufwertung des Viertels beteiligt war. Heutzutage ist Shoreditch mit seinen Boutiqen, Bio-Restaurants und der Graffiti-Verfallsromantik der internationale Touristen-Hotspot schlechthin.
Ein Teufelskreis: Da ihm London zu teuer geworden ist und die Finanzen zu sehr die Kunstproduktion bestimmt haben, zog Robinson vor kurzem nach Northampton.
Sich mit den Opfern des Kapitalismus, der Häuser nicht als Lebensräume, sondern als Spekulationsobjekte betrachtet, solidarisch zu erklären, mag eine ehrenwerte Position sein, eine klassisch linke zumal. Aber sie ist heute problematischer denn je. Denn auch bei denen, die für den EU-Austritt gestimmt haben, handelt es sich weitgehend um die gesellschaftlich Abgehängten. Robinson sieht das ähnlich. Im zufolge sei bei der Abstimmung die große Diskrepanz zwischen den Klassen sichtbar geworden. Besonders die Armen hätten die Stereotypen der Medien einfach so geschluckt. Die Leute, die für den »Brexit« stimmten, würden am stärksten unter dessen Folgen leiden. »Sie haben für ihren eigenen Untergang gestimmt.«
Auch die EU sei schuld an der ­Situation, weil sie fast alle Zuschüsse dem Finanzsektor zukommen ließ, anstatt sich um die sozialen Probleme zu kümmern – und die wenigsten hätten die Finanzpolitik der EU-Politik verstanden. Was Robinson am meisten besorgt, ist das Paradoxe an der Situation. »Es gab auch viele Schwarze, die für den ›Brexit‹ waren, also Leute, deren Vorfahren selbst mal Immigranten waren.«
Deshalb ist der Sänger über die Hetze vor allem gegen osteuropäische Immigranten besorgt, die von Me­dien geschürt wurde. Die Lage in England erinnert ihn an die sechziger Jahre, als sich die aus karibischen Ländern nach Großbritannien siedelnden Menschen mit einer xenophoben Gesellschaft konfrontiert sahen. Heute sei das politische Vakuum noch gefährlicher. Denn die englische Linke könne es derzeit nicht füllen.
Robinson kann darauf nur künstlerisch reagieren. Ein Song auf der neuen EP handelt von einem Hakenkreuz-Graffiti, das er kürzlich an ­einer Londoner Bushaltestelle sah. »On finally wiping the swastika from the busstop, once more at the bustop, London wears a swastika. It centres on me like murder, no matter my amnesia it intrudes, like an unsolicited stare. So who signs this evil art?« rezitiert Robinson.
Die Frage hallt bedrohlich durch die Hotel-Lobby, als suche sie nach einer Antwort. Doch dass sie überhaupt gestellt wird, gibt Grund zur Hoffnung. Vielleicht wird sie von den Richtigen gehört.