Deutschland schwarz

»Seit einiger Zeit begegnet uns eine neue Faszination für die alte Bundesrepublik. Von ihrem biederen oder progressiven Charakter haben wir vielleicht genug gehört, daher tritt jetzt ein verstärktes Interesse an ihren Abgründen, am BRD Noir, hervor.« Dieses neue Interesse ist nicht nur in der Wissenschaft zu beobachten, sondern äußert sich gleichfalls in der Literatur – man denke nur an Heinz Strunks »Der goldene Handschuh« (Jungle World 11/2016).
Im Gespräch erkunden der Kulturwissenschaftler Philipp Felsch und der Schriftsteller Frank Witzel diese Abgründe. Sie orientieren sich dabei am Film noir und den »Minima Moralia« von Theodor W. Adorno, die, im kalifornischen Exil geschrieben, eine Welt in der Totenstarre beschreiben, die von Untoten bevölkert ist, in der Schein und Grauen, Illusion und Abgrund nahezu ununterscheidbar werden. Für Adorno war das die Situation »weit vom Schuss«, die sich literarisch und theoretisch mit der US-ame­rikanischen Erfahrung verschränkte. Für die BRD ist das vor allem die Gesellschaftsordnung des Postfaschismus, des beredten Schweigens, mit ihren Obsessionen: der Vorliebe fürs Praktische, Abwaschbare, Sterile, Parfümierte, für Plastikdecken, Kunstblumen und Fototapeten, für »Aktenzeichen XY … ungelöst« und den »Tatort«.
Es geht aber auch um die RAF, die Angst vor den Großstädten, den Mietnomaden und Kindern vom Bahnhof Zoo und um die Erfahrungen der Frankfurter Schule, der Suhrkamp-Bände und der Kursbuch-Reihe. Felsch und Witzel diskutieren mit Kenntnis und Souveränität die Phänomene der Kulturgeschichte der BRD, um zu erfahren, wie sich die Gegenwart in der Mythologie der jüngeren Vergangenheit selbst bespiegelt. »BRD Noir« bezeichnet also nicht nur die Zeit der Bonner Republik, sondern vor allem das Bild, das sich die Berliner Republik von ihr macht.
Philipp Felsch und Frank ­Witzel: BRD Noir. Verlag ­Matthes & Seitz, Berlin 2016, 174 Seiten, 12 Euro