Filme über die Krise der Männlichkeit bei den Filmfestspielen von Vene

Dämmerung der harten Typen

Die Reihe »Orrizonti« befasste sich auf den Filmfestspielen von Venedig vor allem mit einem Thema: Krise der Männlichkeit.

Wer zur Berlinale fährt, kämpft aufgrund des Termins im Februar häufig mit Schnee und Kälte. Wer das Filmfestival von Cannes besucht, lernt nicht gleich die schönste Seite der Côte d’Azur kennen. Wer jedoch die 73. Ausgabe der Filmfestspiele von Venedig besucht, muss nicht lang auf die Erfüllung seiner Postkartenträume warten: Vom Vaporetto aus sieht man San Marco, die Paläste und Gärten vorbeiziehen, ehe sich das Boot der anderen Seite der Lagune nähert, die einstige Quarantäne­insel San Servolo umschifft und schließlich am Casinò hält, dem unter Mussolini erbauten Koloss auf dem Lido, der nun, umgeben von stolzen Markuslöwen, als Spielstätte dient.
Im Schatten der Platanen liegen müde Festivalbesucher auf den Sitzkissen, die wie weiße Blumen auf der Wiese vor dem Casinò wirken, gerahmt durch das Yves-Klein-Blau des Festivalmarketings. Wer in einigen Tagen den Goldenen Löwen verliehen bekommt – und dass es der philippinische Regisseur Lav Diaz sein wird, der in seinem fast vierstündigen Schwarzweißfilm »The Woman who left« von einer Frau erzählt, die 30 Jahre zu Unrecht im Gefängnis verbracht hat und versucht, ins Leben zurückzufinden – darüber scheint man sich hier kaum Gedanken zu machen. Man sonnenbadet, raucht und redet, die Männer ziehen die Sakkos aus, die Frauen ihre Sandalen. Mit dieser Kulisse ist Venedig den Festivals in Cannes und Berlin um einen Garten der Kontemplation voraus, einer Insel auf der ohnehin schon abgeschnittenen Festivalinsel: Im Vergleich zum Lido hat die Croisette den Charme einer Großraumdisco und der Potsdamer Platz den Zauber einer Tiefgarage.
Während sich der Wettbewerb in diesem Jahr viel mit Frauenfiguren befasst, dominieren in der Sektion »Orrizonti« männliche Protagonisten. Doch von Dominanz kann nur bedingt die Rede sein: Männlichkeit in der Krise steht auf dem Plan, von Helden keine Spur. So führt das Sozialdrama »São Jorge« in das von der europäischen Sparpolitik gezeichnete Lissabon, in dem Inkassounternehmen ihr Unwesen treiben. Jorge, als Boxer arbeits- und als Vater planlos, lässt sich auf ein Jobangebot ein, das ihn als Auftragsschläger einspannt. Im Boxring ein Champion, ist er während der nächtlichen Hausbesuche dann doch nicht zu körperlicher Gewalt in der Lage. Regisseur Marco Martins gelingt die gebrochene Darstellung eines schweißgetränkten Goldkettchen-Machos, den am Ende die Liebe erlöst.
Männer, die sich schlagen, und Frauen, die die Lohnarbeit verrichten, bleiben auch in den weiteren Beiträgen der Sektion ein beliebtes Sujet. Karl Lémieux erzählt in »Maudite Poutine« von geklautem Hasch und Gewalt, eine Geschichte von Bikern und Bandenkriegen, von Männern, denen erst ein weiblicher Ruhepol Halt geben kann. Auch »Il più grande sogno« (Michele Vannucci) beginnt mit einem Schlag in die Fresse. Die Themen Knast, Entlassung und Schwierigkeiten verdecken nur mäßig die eher flache Darstellung ledern-bärtiger Abziehbilder mit Löwenmähne. »How long can a lion who lives vegetarian last?« nimmt Mirko dann tatsächlich sein eigenes Schicksal voraus.
Was jedoch den Erzählanlass zu »Tarde para la ira« (Raúl Arévalo) gab, bleibt rätselhaft. »Just another story about men and revenge«, stöhnt jemand im Publikum, und tatsächlich kann man den Eindruck, diese Narration männlicher Vergeltung nun wirklich schon hundertfach gesehen zu haben, nicht ganz abschütteln. Die Sonne strahlt grell in die Gesichter der harten Typen, aus deren Angelegenheiten Frauen sich lieber raushalten sollen. Vorhersehbar wirken die Szenen brutalen Tötens. Man hat große Lust, das Kino bereits vorzeitig zu verlassen.
Nicht immer lässt sich dieser Impuls unterdrücken. »Le roi, c’est moi«, tönt der König von Belgien in der Mockumentary »King of the Belgians« (Jessica Woodworth). Er und seine Berater sind gerade auf Staatsbesuch in Istanbul, als Wallonien seine Unabhängigkeit deklariert. Die schiefe Totale auf ein wackeliges Boot im Bosporus ist so durchschaubar, dass man lieber schnell in die Spätvorstellung des zweiten belgischen Beitrags flieht: »Home« (Fien Troch) konfrontiert sein Publikum mit der Drastik eines pubertär-archaischen Milieus, in dem 50 Euro das Gebot für zwei entblößte Brüste sind. Was zunächst als derbe Coming-of-Age-Erzählung anmutet, in der Mittelschichtkids mit roten Augen Partys feiern, schlägt im Moment des Muttermords rasant um. Gleichzeitig erzählt der Film von der Misere männlicher Adoleszenz, in der homosexuelles Begehren als schlimmste Zuschreibung überhaupt gilt. Nicht viel besser als die Teenager schneiden ihre Eltern ab, die so agieren, als hätte Alice Miller das Drehbuch geschrieben.
Wer mehr Wert auf Bechdel legt, muss jedoch weitersuchen. Die drei Kriterien des von Alison Bechdel entworfenen Tests, der zur Auswertung von Frauenrollen in Spielfilmen beitragen soll, waren den bisherigen Filmemacherinnen scheinbar unbekannt oder sie sahen sich nicht in der Lage, sie zu berücksichtigen. Die Forderung nach Frauenfiguren, die einen Namen und andere Gesprächsthemen als Männer haben, scheint viele Autorinnen vor echte Herausforderungen zu stellen.
Dementsprechend hoch sind also die Erwartungen an den Beitrag der in Tel Aviv lebenden Regisseurin Rama Burshtein. Bereits in Cannes, beim französischen Pendant der »Orrizonti«, in der Sektion »Un Certain Regard«, stachen in diesem Jahr die beiden israelischen Filme mit interessanten Frauencharakteren heraus. In »Laavor et Hakir« parodiert Bur­shtein den alten Mädchentraum von der Erlösung in der Ehe. Die Trennung von ihrem Verlobten ist für Protagonistin Michal noch lange kein Grund, die Hochzeit abzusagen: Der Termin steht schließlich fest, der Saal ist gebucht. Von ihrer jüdischen Familie wegen Blasphemie gescholten, ist sie sich sicher: Wenn er will, dass ich heirate, wird er mir schon über den Weg laufen, er, den sie mit dieser Erwartungshaltung beschreibt: »the love of my life, my best friend, my husband and the father of my chil­dren«. Der nun folgende Dating-Marathon offenbart den Einblick in eine weibliche Weltsicht, in der Männer das Andere sind, das Begehrte, das es zu gewinnen gilt.
Der Bechdel-Test greift auch hier nur bedingt: Zwar tragen die Frauencharaktere allesamt sehr hübsche Namen und quasseln unaufhörlich miteinander – doch leider nie über etwas anderes als den Mann und was er wohl gleich am Telefon von sich geben könnte. Dass sich der erst zurückhaltende Besitzer des Festsaals letztendlich als sehr heiratswillig herausstellt, ist absehbar und deshalb ein wenig ärgerlich. Während die Klaviermusik des Abspanns die Standing Ovations begleitet, wünscht man sich, die Regisseurin hätte Eva Illouz gelesen. Und dennoch ist »Laavor et Hakir« einer der originelleren Beiträge der Sektion: ein Film über Suchen statt Sein, über Willen, Wahrheit und die Diskrepanz, die es da manchmal gibt, über die Angst vorm Alleinsein und was sie alles anrichten kann.
Anlass zur Freude finden Bechdel-Fans dann doch noch in den für den Queer Lion Award nominierten ­Filmen. Zwei Beiträgen gelingt der Kunstgriff, Orte der Malaise zum Zentrum der Handlung zu erklären. In »Le ultime cose« ist es ein Pfandhaus am Stadtrand von Turin, in dem sich die Wege prekärer Existenzen kreuzen. Mal kommen sie mit einem Goldzahn, mal mit einem Kuchen, mal mit einem Pelzmantel wie die junge Transfrau Sandra, in die sich der Angestellte Stefano prompt verliebt. Dass hier Laien neben profes­sionellen Schauspielerinnen auftreten, sei ein wichtiger Bestandteil des Projekts gewesen, sagt Regisseurin Irene Dionisio. Sie habe den ökonomischen und moralischen Tod einer Gesellschaft einfangen wollen, er­läutert sie. Mit dem fast schon märchenhaften Soundtrack wird die Schilderung der prekären Lebensumstände gemildert.
In »Réparer les vivants« begleiten lakonische Gitarrentöne die ersten Bilder, auf denen drei Jungs durch tiefblaue Wellen surfen: »I’ll never understand what it means to be a man who is white, cause he never has to fight«. Doch plötzlich geschieht ein Unfall. Eigentlich, könnte man sagen, geht es hier um eine Organtransplantation, aber diese Aussage würde der Intention des Films nicht gerecht werden. Vielmehr hat sich sein Erzählstrang dem Serendipity-Prinzip verschrieben: Mal schauen, wer so als nächstes durch die Nacht irrt, und was wir damit anfangen. Eben jenem Zufall, der einer Transplantation zugrunde liegt, zollt die Form Respekt, der Gestus dabei ist jedoch unaufgeregt. Katell Quillévéré erzählt das Ganze fast beiläufig.
Welche Kriterien bei der Zusammenstellung der »Orrizonti« gegolten haben könnten, bleibt unklar. In den Kinosälen vergisst man jedenfalls schnell die Idylle, die draußen auf dem Lido wartet. Blickt man auf den dämmernden Horizont Venedigs, ist die Schwere der Filmreihe »Orrizonti« schnell vergessen.