Der Umgang mit der kolonialen Vergangenheit in Belgien

Der koloniale Blick

Die Geschichte des Afrika-Museums bei Brüssel zeigt, wie schwierig eine kritische Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus in Belgien immer noch ist. Nun wird eine neue Dauerausstellung produziert.

Ein Museum, das einem Massenverbrechen gewidmet ist, ohne es als solches benennen zu können? In Belgien gibt es das – oder darf man schon sagen, gab es das? Das Königliche Museum für Zentralafrika, idyllisch in einem Park in Tervuren wenige Kilometer außerhalb Brüssels gelegen, ist das einstige Museum des Belgischen Kongo. In Auftrag gegeben wurde es zum Ende des 19. Jahrhunderts von König Leopold II., der die persönlichen Eigentumsrechte nicht nur an 2,5 Millionen Quadratkilometern zentralafrikanischen Landes, einschließlich aller Bodenschätze und landwirtschaftlichen Erträge, sondern auch an der Arbeitskraft seiner Bewohner erworben hatte.
Der größenwahnsinnige Leopold, Herrscher über das achtzigmal kleinere Belgien, hatte auch schon überlegt, China, Japan oder Borneo zu kolonialisieren. Letztlich war es die Hilfe des bis heute als »Entdecker« berühmten Henry Morton Stanley, die dazu führte, dass Leopold in der Berliner Konferenz 1884/85 das Eigentumsrecht am Gebiet der heutigen Demokratischen Republik Kongo zugesprochen wurde. Der Herrscher wurde damit schlagartig zum reichsten Mann nicht nur Belgiens, sondern womöglich der ganzen Welt, doch er brauchte Geld, um seinen Reichtum auszubeuten. Aus einem Pavillon, in dem auf der Weltausstellung 1897 in Tervuren für Investitionen im Kongo geworben wurde, entstand in den folgenden Jahren das Museum.
In der Ausstellung gab es einen »menschlichen Zoo«, in dem Menschen aus dem Kongo in traditionellen Kostümen gezeigt wurden – sieben von ihnen starben an Kälte und Krankheiten. Im Kongo selbst begingen die Kolonisatoren währenddessen noch weit größere Grausamkeiten: Wer sich dem Zwang zur unentgeltlichen Arbeit nicht zur vollen Zufriedenheit der von Leopold eingesetzten Statthalter unterwarf, der wurde umstandslos erschossen; berüchtigt sind die Zählungen abgehackter Hände, die die Soldaten ablieferten, um Prämien zu kassieren. Verstümmelungen und Auspeitschungen waren in den Kautschukplantagen an der Tagesordnung, jeglicher Widerstand wurde auf die brutalste Weise niedergeschlagen.
All das spielte im Museum bis ins 21. Jahrhundert keine Rolle. Tausende von afrikanischen Kunstwerken wurden aus dem Kontext gerissen und als Kuriositäten ausgestellt, die zunächst – mit schamhaft verhüllten Genitalien – vor allem dazu dienen sollten zu zeigen, wie dringend die angeblich primitiven Afrikaner der europäischen Zivilisation bedurften. Als man schließlich doch kritischer wurde, fehlte oft der Zusammenhang, aus dem die Masken und Statuetten stammten, ohne ihn blieben sie Teil eines exotischen Spektakels.
Im Jahr 2005 gab es zum ersten Mal eine Ausstellung, die ein kritisches Licht auf die Geschichte der belgischen Kolonialherrschaft warf. Ermöglicht hatte das der seit 2001 amtierende Direktor Guido Gryseels, »der erste, der keinen kolonialen Blick mehr hat«, wie ein Mitglied der afrikanischen Community in Brüssel sagt.
Gryseels hatte mit Widerständen zu kämpfen: Die ehemaligen Kolonisatoren sind gut organisiert in Belgien. Da sie aber 57 Jahre nach dem Ende der Kolonialherrschaft nicht mehr sehr zahlreich sind, übernehmen nun, ähnlich wie bei den deutschen Vertriebenenverbänden, die zweite und dritte Generation, die selbst gar nicht mehr im Kongo gelebt haben. Wann immer sich eine, zumal mit öffentlichen Geldern finanzierte, kritische Stimme zum belgischen Kolonialismus erhebt, machen sie ihren Einfluss geltend. Den Nachfolgern der Kolonialisten stehen die katholische Kirche und die mit ihr assoziierten christdemokratischen Parteien auf flämischer und französischsprachiger Seite nahe.
Trotz dieser Widrigkeiten ließ der neue Direktor einen kritischen Blick auf die Geschichte des belgischen Kolonialismus zu. Er setzte ein sechsköpfiges Beratergremium aus externen Experten ein, die alle eine belgisch-afrikanische Vita haben. Und er sorgte dafür, dass unter den etwa 80 Wissenschaftlern, die das Museum beschäftigt, mittlerweile auch solche afrikanischer Herkunft sind. Doch es sind noch immer wenige, nicht viel mehr als fünf Prozent.
Eine von ihnen ist Bambi Ceuppens, deren Vater aus dem Kongo stammt. Im Gespräch mit der Jungle World sagt die Anthropologin: »Die neue Ausstellung wird die Geschichte des Museums und den kolonialen Kontext zeigen, in dem es entstand.« Denn trotz aller Modernisierungsbemühungen Gryseels’ – ein Problem blieb die Dauerausstellung, die im Wesentlichen eine zuletzt 1958 aufpolierte Schau noch unter Leopold II. zusammengeraffter Beutestücke war. Eine koloniale Perspektive prägte diese Ausstellung von Grund auf. Da zudem das vom Anfang des 20. Jahrhunderts stammende Gebäude dringend sanierungsbedürftig war, beschlossen Gryseels und sein Team, einen radikalen Schritt zu gehen und das Museum vier Jahre lang, von 2013 bis 2017, zu schließen.
Wenn man heute Tervuren besucht, tut sich neben dem palastartigen Hauptgebäude eine riesige Baugrube auf. Über eine noch im Rohbau befindliches Servicegebäude mit Kassen, Garderoben und Cafetería wird man künftig unterirdisch in die Ausstellung gelangen. »Weil das Museum nicht nur Museum ist, sondern zugleich ein Forschungsinstitut, sollen auch die verschiedenen Forschungsfelder in der neuen Ausstellung repräsentiert sein – Archäologie, Linguistik, Geologie, Biologie, Geschichte, Anthropologie und Musikwissenschaft«, sagt Ceuppens.
Vor allem aber geht es den Ausstellungsmacherinnen und -machern um einen Perspektivwechsel. Während früher die Geschichte so dargestellt worden sei, als ob sie erst mit der Präsenz der Europäer begonnen hätte, gebe es nun einen »klaren Fokus auf die afrikanische Geschichte«, so Ceup­pens, die federführend an der Produktion der neuen Ausstellung beteiligt ist. Ein eigener Raum soll sich mit der Kolonialgeschichte und ihren Verbrechen befassen. Man habe sich dagegen entschieden, das Thema in jeder Abteilung für sich zu behandeln, sagt Ceup­pens, weil man befürchtete, »dass dies als Versuch gesehen werden könnte, den Kolonialismus zu verstecken«.
Ähnliches gilt für die geographische Beschränkung auf den ehemals belgischen Teil Afrikas, also Kongo, Ruanda und Burundi. »Manche haben gesagt: Wenn ihr diesen Fokus behaltet, bleibt ihr ein Kolonialmuseum. Andere, wie ich, haben dagegengehalten, dass man sich ohne diesen Fokus dem Vorwurf aussetzt, sich der kolonialen Vergangenheit nicht stellen zu wollen«, sagt Ceuppens. Andere Regionen sollen in Wechselausstellungen thematisiert werden.
Außerdem soll sich das Museum der afrikanischen Community Belgiens öffnen, Veranstaltungsräume sollen es möglich machen, das immaterielle Erbe in den Mittelpunkt zu stellen und lebendige afrikanische Kultur zu zeigen anstelle von angestaubten Exponaten. Das sind hehre Ziele und noch ist nicht absehbar, ob sie erreicht werden. Aber der Anspruch, von der ethnologischen Sichtweise zu einer soziologischen, historisch-kritischen zu gelangen, besteht offensichtlich.