Kinderarmut in Deutschland

Arm in einem reichen Land

Die Zahl der in Armut lebenden Kinder in Deutschland wächst. Ursache dafür ist vor allem die Politik der Bundesregierung.

Fast zwei Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland leben in Familien, die auf staatliche Grundsicherung angewiesen sind. Das geht aus dem neuesten Bericht der Bundesagentur für Arbeit hervor. Damit sind die Zahlen im Vergleich zum Vorjahr erneut gestiegen. Während die Zahl der Kinder, deren Eltern auf Grundsicherung angewiesen sind, im Osten Deutschlands leicht zurückging, stieg sie in Westdeutschland um 1,4 Prozent. Diese Daten decken sich mit einer kürzlich veröffentlichten Studie der Bertelsmann-Stiftung und den Angaben des Statistischen Bundesamts, denen zufolge etwa drei Millionen Minderjährige, also etwa jeder Fünfte, von Armut betroffen sind.
Betroffen sind vor allem Kinder von Alleinerziehenden und aus kinderreichen Familien. Von allen Heranwachsenden in staatlicher Grundsicherung werden 36 Prozent in Familien mit drei oder mehr Kindern groß, die Hälfte lebt bei einem alleinerziehenden Elternteil. Etwa ein Drittel dieser Alleinerziehenden mit ALG-II-Bezug ist erwerbstätig, doch reicht der Lohn nicht zum Leben.
Noch etwas zeigt die Studie: Armut ist oftmals ein dauerhafter Zustand. So sind 57,2 Prozent der Betroffenen im Alter zwischen sieben und 15 Jahren drei Jahre und länger auf die Grundsicherung angewiesen.
Eine negative Folge ist die soziale Isolation der Kinder und Jugendlichen. Es fehlt an Geld für Schulausflüge oder neue Spielsachen. Ärmere Kinder laden andere ungern nach Hause ein und können dies auch häufig nicht, da sie kein eigenes Zimmer und keinen anderen Rückzugsort haben. Das Geld für Busfahrten fehlt ebenso wie die Mittel für Freizeitaktivitäten wie den Kino- oder Konzertgang. Auch für die außerschulische Betätigung im Sportverein oder in der Musikschule fehlen die finanziellen Ressourcen.
Zur sozialen Ausgrenzung kommen häufig auch gesundheitliche Beeinträchtigungen durch mangelnde oder ungesunde Ernährung hinzu. Zudem haben es Kinder aus armen Familien in der Schule weitaus schwerer. Nicht zuletzt, weil das Geld für Nachhilfeunterricht fehlt und die Eltern entweder nicht in der Lage sind, ihre Kinder zu unterstützen, oder wegen unregelmäßiger Arbeitszeiten schlicht keine Zeit dazu haben.
Bisher sind die Auswirkungen von Kinderarmut in Deutschland nur lückenhaft untersucht, was vor allem auf den Mangel an Erhebungen insbesondere zur Armutsdauer und zu Armutsfolgen zurückzuführen ist. Jörg Dräger, Vorstandsmitglied der Bertelsmann-Stiftung, fordert daher dringend eine Verbesserung der Datenlage. »Kinderarmut beeinträchtigt die Chancen für das ganze Leben. Um gezielt gegen sie und ihre Folgen vorzugehen, brauchen wir mehr Fakten«, so Dräger.
Die Autoren der Studie plädieren außerdem für ein stärkeres Engagement des Staats gegen Kinderarmut. Bislang berücksichtige das staatliche Unterstützungssystem zu wenig, welchen Bedarf Kinder tatsächlich haben. Die Existenzsicherung müsse sich daran orientieren, was Kinder für gutes Aufwachsen und Teilhabe benötigten, betont Dräger. Nur so könne Kinderarmut wirksam bekämpft werden.
Diesem Kampf gegen Kinderarmut hat sich nun ein Zusammenschluss von ungefähr 40 Sozialverbänden, Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen verschrieben, der sich mit einem gemeinsamen Aufruf unter dem Motto »Keine Ausreden mehr: Armut von Kindern und Jugendlichen in Deutschland endlich bekämpfen!« an die Öffentlichkeit wendet.
In ihrem Aufruf fordern die Organisationen unter anderem eine Neuberechnung des Existenzminimums für Kinder. Derzeit würden bei der Berechnung der Hartz-IV-Regelsätze notwendige Ausgaben für Kinder in viel zu geringer Höhe angesetzt. Des Weiteren sei eine »sozial gerechte Familienförderung« notwendig. Derzeit würden Kinder gutverdienender Eltern durch Kinderfreibeträge unterstützt, während das Kindergeld beim Bezug anderer Leistungen mit dem Sozialgeld vollständig verrechnet wird. Kindergelderhöhungen gehen so an in Armut lebenden Kindern und Jugendlichen vorbei.
Außerdem wird gefordert, die Beantragung von Leistungen einfacher und transparenter zu gestalten. Bislang müssen die verschiedenen Leistungen bei unterschiedlichen Behörden beantragt werden. Dies und die unterschiedlichen Antrags- und Verrechnungsregelungen für Leistungen, die sich auf dasselbe Kind beziehen, sind nur schwer nachvollziehbar und erschweren den Familien den Bezug von Leistungen erheblich
»Die Kinderarmut ist seit Jahren anhaltend hoch, obwohl unsere Wirtschaft brummt und die Erwerbstätigenzahlen stetig steigen«, beklagt Heinz Hilgers, Präsident des Deutschen Kinderschutzbunds, der zu den Organisatoren des Aufrufs gehört. »Von der vermurksten Neuberechnung der Hartz-IV-Kinderregelsätze über die bei weitem nicht ausreichende Kindergelderhöhung bis zu keinerlei Rechtsvereinfachung beim Bildungs- und Teilhabepaket – die Bundesregierung hat nichts getan, um Kinderarmut wirksam zu verringern«, so Hilgers.
Tatsächlich wird der Regelbedarf für Kinder nur aus den Ausgabenpositionen der ärmsten Haushalte errechnet. Nach Berechnungen der Diakonie Deutschland, die den Aufruf ebenfalls unterstützt, sind die Kinderregelsätze um 20 Euro bis 50 Euro zu niedrig angesetzt. Auch die Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket unterliegen keiner nachvollziehbaren Bedarfsermittlung. Die für die Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben vorgesehenen zehn Euro monatlich decken die tatsächlichen Beiträge etwa für Musikschulunterricht oder von Vereinsbeiträgen nicht. Für schulische Bedarfe sind jährlich 100 Euro vorgesehen. Nach einer Studie von Diakonie und Evangelischer Kirche in Niedersachsen liegen die tatsächlichen Kosten allein bei der Einschulung und beim Übergang in eine weiterführende Schule aber mehr als doppelt so hoch.
Erschwerend hinzu kommt, dass 34 bis 43 Prozent der Berechtigten Leistungen nicht in Anspruch nehmen. Neben Scham oder Angst vor Kontrollen sind fehlende Informationen einer der wesentlichen Gründe, wieso Leistungen nicht beantragt werden.
Die Organisatoren des Aufrufs gegen Kinderarmut sehen daher die Bundesregierung in der Pflicht. »Kinderarmut darf nicht länger hingenommen werden«, betont der Bundesvorsitzende der Arbeiterwohlfahrt, Wolfgang Stadler. »Die Folgen von Kinderarmut zu bekämpfen, ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Leider hat man den Eindruck, dass die Bundesregierung dieses sozial- und bildungspolitisch überaus wichtige Thema vernachlässigt. Wir fordern die Bundesregierung auf, endlich zu handeln«, so Stadler.
Auch die Opposition sieht Handlungsbedarf. So will die Linkspartei vor allem eine Entlastung von Alleinerziehenden durchsetzen. »Wir fordern als einen ersten wichtigen Schritt die Ausweitung des Unterhaltsvorschusses. Dieser wird bisher nur bis zum 12. Lebensjahr des Kindes und maximal 72 Monate lang gezahlt«, so Norbert Möller, kinder- und jugendpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion der Linkspartei. Außerdem werde das Kindergeld voll auf den Unterhaltsvorschuss angerechnet. Die Linkspartei fordert daher den Unterhaltsvorschuss bei Bedarf zukünftig bis zum 18. Lebensjahr zu zahlen, die maximale Bezugsdauer aufzuheben und das Kindergeld nicht mehr voll auf den Unterhaltsvorschuss anzurechnen.
Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) hingegen wies die Kritik von Sozialverbänden und Opposition zurück. »Kinder sind arm, wenn ihre Eltern arm sind. Dagegen hilft vor allem eine auskömmliche Arbeit«, so Schwesig. Die Regierung müsse lediglich dafür sorgen, dass Unterstützungsleistungen »zielgenauer« bei den Kindern ankommen, und erhöhe deshalb den Kinderzuschlag. Geholfen wäre damit jedoch den wenigsten. Auch der Kinderzuschlag ist mit hohen bürokratischen Hürden verbunden und die Voraussetzungen sind für viele nicht nachvollziehbar. Derzeit nimmt gerade einmal ein Drittel der Leistungsberechtigten seinen Anspruch wahr.