Viele linke Gruppen und Initiativen beschäftigen sich mit der Aufarbeitung der NSU-Morde

Die Beobachtungslinke

Seit der Selbstenttarnung des »Nationalsozialistischen Untergrunds« ist der NSU-Komplex zu einem strömungsübergreifenden Hauptthema der Linken geworden.

Fritz Burschel, ein Prozessbeobachter beim Münchner NSU-Prozess, ist wütend. »Die Bewegung, die Verfassungsschutzämter stürmt und die Massen mobilisiert, um eine umfassende Aufklärung des NSU-Komplex einzufordern, ist ausgeblieben«, sagte er am vergangenen Samstag auf der Demons­tration des Bündnisses »Irgendwo in Deutschland« im sächsischen Zwickau. Knapp 600 Jugendliche und Junggebliebene in schwarzen Outdoorjacken drängten sich bei Kälte und Nieselregen unter ihre bunten Regenschirme. Sie waren aus dem ganzen Bundesgebiet angereist, um fünf Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU am letzten gemeinsamen Wohnort von Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhard zu demonstrieren. Burschels Resümee, die Linke habe in der Causa NSU versagt, ist nicht ganz von der Hand zu weisen.
In Zwickau lebten die drei Neonazis zehn Jahre lang unbehelligt von Polizei und Geheimdiensten und pflegten ein gutes Verhältnis zur Nachbarschaft, obwohl sie zur Fahndung ausgeschrieben waren und sich in ihrem Umfeld zahlreiche Informanten des Verfassungsschutzes tummelten. Aber auch von der Antifa, die das Abtauchen des Trios in den Untergrund drei Jahre zuvor durchaus noch registriert hatte, hatten sie nichts zu befürchten. Das öffentliche Bekanntwerden des NSU im Jahr 2011 kam für die Antifa- und Antira-Bewegung so überraschend wie für die übrige deutsche Öffentlichkeit, sieht man von den Familien der Ermordeten und den Opfern des Nagelbombenanschlags in der Kölner Keupstraße ab. Sie waren die einzigen, die immer schon von dem überzeugt waren, was später erst bewiesen wurde: dass nicht eine »türkische Mafia« oder die PKK, sondern Neonazis für die Morde verantwortlich waren. Zwei Demonstrationen in Kassel und Dortmund 2006, die weit größer waren als die diesjährigen Demonstrationen in Zwickau und Berlin und die von den Angehörigen der beiden Mordopfer Halit Yozgat und Mehmet Kubaşık organisiert wurden, fanden beinahe ohne Beteiligung linker Gruppen statt.
Heutzutage gibt es hingegen keinen Mangel an Linken, die sich mit verschiedenen Aspekten des weitverzweigten NSU-Komplexes auseinandersetzen. Das Engagement reicht von Protest vor dem Oberlandesgericht München bis zu Kulturproduktionen. Zahlreiche Theaterstücke, wie das im Residenztheater München uraufgeführte Stück »Ur­teile« oder die am 3. November 2016 in Berlin angelaufenen »NSU-Monologe«, sind Versuche, die Perspektive der Betroffenen des NSU-Terrors, der rassistschen polizeilichen Ermittlungen und des uneingelösten politischen Versprechens der Aufklärung zu thematisieren. Die Menge der beteiligten Einzelpersonen und Gruppen ist inzwischen so groß und heterogen geworden, dass die linke Auseinandersetzung mit dem NSU längst Bewegungscharakter hat.
Alles fing mit dem Projekt »NSU-Watch« an, für das auch Burschel arbeitet. Das Netzwerk aus Antifa- und Antira-Gruppen gründete sich mit dem Ziel, den ersten NSU-Bundesuntersuchungsauschuss kritisch zu beobachten. Später verlagerte sich der Fokus auf den Münchner NSU-Prozess und dann auf die zahlreichen Landesuntersuchungsauschüsse. Mittlerweile gibt es lokale NSU-Watch-Gruppen in ganz Deutschland. Für seine unermüdliche und akribische Arbeit, insbesondere das Verfassen täglicher Protokolle vom Münchner Prozess, hat NSU-Watch die Anerkennung der Medien und viele Preise gewonnen, darunter den Hans-Frankenthal-Preis der Stiftung Auschwitz-Komitee. Das ständige Dokumentieren und Analysieren benötigt allerdings enorme Kapazitäten, deshalb gelang es NSU-Watch nicht, zusätzlich den Protest auf der Straße zu organisieren.
In den jeweiligen Städten der Anschläge gibt es Gruppen, die sich mit den Betroffenen des Terrors solidarisieren. Die »Initiative 6. April« aus Kassel hat sich den Forderungen der Angehörigen von Halit Yozgat angeschlossen und setzt sich dafür ein, die Holländische Straße in Kassel, den Tatort des Mordes an Yozgat, in »Halit-Straße« umzubenennen. In der Initiative »Keupstraße ist überall« organisieren sich Opfer des Anschlags und deren Unterstützer. Das von der Gruppe herausgegebene Buch »Von Mauerfall bis Nagelbombe« setzt die Pogrome der neunziger Jahre in Bezug zu den NSU-Anschlägen. Diese Gruppen haben sich den Forderungen der Betroffenen nach einer umfassenden Aufklärung der Taten des NSU-Netzwerks angeschlossen und verlangen Konsequenzen aus der polizeilichen und medialen Kriminalisierung, die die Bewohnerinnen und Bewohner der Keupstraße die »Bombe nach der Bombe« nennen. Einen anderen Schwerpunkt setzt die Kampagne »Blackbox Verfassungsschutz« der Berliner Naturfreunde, die sich in erster Linie der Abschaffung des Inlandsgeheimdiensts verschrieben hat. Als »Verfassungsschützer« verkleidet in Mänteln, Hüten und Sonnenbrillen stören sie Veranstaltungen des Inlandsgeheimdienstes, der angesichts des Imageschadens durch den NSU-Komplex versucht, sich als Demokratiefeuerwehr zu inszenieren. Vertreterinnen und Vertreter der Initiative verteilen Säcke mit geschreddertem Papier oder einen eigenen Verfassungsschutzbericht über die Verstrickungen des Geheimdiensts in den NSU-Komplex mit dem Titel »Das dunkle Kapitel«.
Das Potential der Protestbewegung liegt in ihrer Heterogenität. In ihr treffen sich Strömungen der Linken wieder, die lange wenig miteinander kommuniziert haben – das betrifft vor allem antifaschistische und antirassistische Gruppen. Die Erkenntnis, dass man auf das Wissen und die Erfahrung der jeweils anderen angewiesen ist, um den NSU-Komplex angemessen zu verstehen, setzt sich nur langsam und gegen Widerstände durch. Auch persönliche Konsequenzen vergangener innerlinker Kämpfe, nicht zuletzt die Auseinandersetzungen zwischen anti­deutschen und postkolonialen Gruppen, sind noch deutlich spürbar. Antonia von der Behrens, Anwältin der ­Familie Kubaşik im Münchner Prozess, fügte dem auf der Gedenkdemonstra­tion am 6. November in Berlin einen weiteren Punkt hinzu: »Es besteht auch in der Linken eine verbreitete Angst, sich mit dem Thema Geheimdienste zu beschäftigen – man möchte nicht als Verschwörungstheoretiker bezeichnet werden.« In der Praxis führe das dazu, dass sich Verschwörungstheoretiker des Feldes bemächtigten. Damit dürfte sie auch den Romanautor Wolfgang Schorlau gemeint haben. Sein NSU-Krimi »Die schützende Hand« legt nahe, die beiden NSU-Mitglieder Mundlos und Böhnhard seien in Wahrheit vom Verfassungsschutz ermordet worden. Schorlaus Buch attestiert Burschel in der Zeitschrift Konkret »die Verharm­losung der deutschen Naziterrorszene, ›Reichsbürger‹-kompatiblen Antiamerikanismus und sonstigen rassistischen Beifang«. Der Auftritt Schorlaus auf einer von der Interventionistischen Linken organisierten Konferenz im Februar 2016 hatte in der Szene daher für einige Verstimmung gesorgt.
Allen Schwierigkeiten zum Trotz entsteht mittlerweile auch eine überregionale und strömungsübergreifende Kampagne. Hervorgegangen aus dem bundesweiten Aktionsbündnis »NSU-Komplex auflösen« rufen die Initiatoren zu einem »Tribunal« auf, das vom 17. bis 21. Mai 2017 in Köln stattfinden soll. Ziel ist es, das zu tun, was nach Auffassung der Organisatoren die staatl­iche Aufarbeitung des NSU-Komplexes versäumt. Im Schauspiel Köln, unweit der Keupstraße, wollen sie den Betroffenen des NSU-Komplexes jenen Raum zum Klagen und Anklagen einräumen, der ihnen weder im Münchner Prozess noch in den Untersuchungsausschüssen zugestanden wird. Und vielleicht bekommt Fritz Burschel dabei ja sogar noch den von ihm erträumten Sturm auf den Verfassungsschutz – das Bundesamt hat seinen Sitz schließlich ebenfalls in Köln.