Trauma und Gedenken in Paris ein Jahr nach den jihadistischen Anschlägen vom 13. November

Bilder des Gedenkens

Am Abend des 13. November 2015 verübte die Terrormiliz »Islamischer Staat« Anschläge an verschiedenen Orten in Paris, unter anderem vor dem Stade de France, im Konzertsaal Bataclan sowie vor und in Lokalen. Die Jihadisten ermordeten an diesem Abend 130 Menschen. Eine deutsch-französische Gruppe junger Fotografinnen und Fotografen war damals gerade für eine gemeinsame Arbeit in der Stadt. Am Jahrestag der Terroranschläge dokumentierten einige von ihnen das Gedenken und erinnerten sich selbst an den Tag, der vieles veränderte.

Leicht ist das nicht für ihn. Abdu ist wieder auf dem Weg nach Paris, zum ersten Mal seit November vergangenen Jahres. Für den Flug nach Frankreich muss der junge Berliner mit marokkanischem Namen und viel Fototechnik im Handgepäck einige Sonderkontrollen über sich ergehen lassen. Das erste Mal war Abdu 2014 in Frankreich, während eines Austauschs zwischen Schülerinnen und Schülern der 12. Klasse aus Berlin und Lyon. Die Jugendlichen konnten damals mit Methoden des Theaters ihr Interesse an Europa erkunden. 2015 dann nahm Abdu an einem deutsch-französischen Fotoprojekt teil, bei dem es um die Auseinandersetzung mit gesellschaftlicher Diversität gehen sollte. Die Vernissage war für den 14. November 2015 im Rathaus des 18. Arrondissements in Paris angesetzt. Sie fiel aus.
Am Tag zuvor war Abdu mit vielen anderen aus der deutsch-französischen Gruppe im Stade de France beim Freundschaftsspiel zwischen der französischen und der deutschen Fußballnationalmannschaft. An die Druck­welle der ersten der drei Bomben kann sich Abdu noch erinnern. Und auch daran, dass eine britische Zeitung noch vor der zweiten Explosion twitterte, es habe einen Anschlag gegeben. Die Nervosität habe ihn noch tagelang in der Schule begleitet, erzählt Abdu. Doch er sehe sich nur als Zeugen, sagt er.
Es dauerte an jenem Abend vor einem Jahr lang, bis Abdu mit seiner Gruppe im nahegelegenen Hostel im Pariser Norden ankam. Unterwegs ­fotografierte er. Nur wenige Aufnahmen, eher subjektive Eindrücke. Daraus entstand eine kleine Ausstellung.
Diana kam am 13. November vor einem Jahr nicht mit ins Stadion. Sie kennt Abdu aus dem Fotoworkshop zur Diversität, ihre Fotos sollten auch ausgestellt werden. Seit den Anschlägen sei sie sich jeden Tag bewusst, wie glücklich sie sei, am Leben zu sein, erzählt Diana. Auch jetzt lacht sie viel.
Am Vorabend des Jahrestags der Anschläge treffen sich Abdu und Diana, um die Stationen für die nächsten Tage zu planen. Finanziert vom Deutsch-Französischen Jugendwerk und mit ganz unterschiedlichen Ideen wollen sie mit der Kamera ergründen, was die Anschläge in Frankreich, bei den Parisern und bei ihnen ausgelöst haben.
Für ihre Porträtserie ist Diana mit Abdu am Tag vor den offiziellen Gedenkfeiern zur Wiedereröffnung des Bataclan gekommen, wo Jihadisten des IS vor einem Jahr 90 Menschen ermordet hatten. Sting gibt hier heute ein Konzert. Diana versucht, mit den Anwesenden ins Gespräch zu kommen. Doch am Einlass für die geladenen Angehörigen und Freunde der Ermordeten und andere Betroffene findet sie kaum Personen, die reden wollen. Einige Tage zuvor konnte sie beim Fo­tografieren auf der Straße mit einer Pariserin ausführlicher sprechen. Diese habe sich daran gewöhnt, unter Stress zu stehen, von ihrer Verwandtschaft in Israel höre sie regelmäßig über Anschläge und Tote, ihre Familie sei dort jeden Tag in Gefahr. Sie sei zwar traurig am Jahrestag, statt paranoid zu werden, sei es aber besser, sich nicht zu verstecken, sondern auszugehen und Paris zu genießen, so die Frau.
Am Jahrestag des Anschlags besuchen Politikerinnen und Politiker am Vormittag die Orte der Attentate. Abdu hat Schwierigkeiten, Motive zu finden. Die leise weinende Frau am Rand? Der Sprengstoffhund, der die Kamerataschen der Fernsehteams durchschnüffelt? Die freundlichen und gar nicht so zahlreichen Polizisten der Gendarmerie und Nationalpolizei, die geduldig Auskunft geben? Der Mann mit dem Holzkreuz, auf das Handys genagelt sind? Die Normalität des Ausnahmezustands ist für Abdu so schwer zu fassen wie die Erschütterung am Abend der Anschläge.
In den Abendstunden besucht Abdu die Orte nahe des Stadions, an denen er die Zeit nach den Explosionen verbringen musste, weil Nahverkehrszüge nicht fuhren und nicht bekannt war, in welche Richtung man sich sicher bewegen konnte. Es ist wieder kalt und diesig. Aber daran liegt es wohl nicht, dass hier nur ein paar Passanten umherstreifen, die eher wie Party- oder Gassigänger wirken. An das Geschehene erinnern nur noch die am Morgen angebrachten Tafeln.
Abdu fotografiert am Stade de France Straßenkreuzungen – diesmal ohne Uniformierte, er selbst ganz anders angespannt als vor einem Jahr. Auf demselben Heimweg wie damals, über den Nahverkehrsbahnhof La Plaine-Stade de France, muss Abdu wieder auf den Zug warten, der sich verspätet hat. Ein verdächtiges Objekt liegt wieder irgendwo, das den Verkehr erliegen lässt. Doch er ist nach seinem 15-Stunden-Tag zu müde, um sich Sorgen zu machen.
Am Abend zeigt sich das Gedenken in der Stadt vielfältiger. An unterschiedlichen Orten wird musiziert und gesungen, manche Menschen hinterlassen persönliche Briefe an Unbekannte, die viel Zustimmung finden, fotografiert und weitergereicht werden. Vor dem Bataclan zündet ein Mann gleich eine ganze Schachtel Kerzen an.
Spätabends bildet sich ein sehr lauter Trauerzug mit etwa 500 Menschen hinter einem Transparent, auf dem der Wahlspruch der Stadt Paris steht: Fluctuat nec mergitur. (Es schwankt, aber geht nicht unter.) Ultras des Pariser Fussballclubs Paris Saint-Germain demonstrieren gemeinsam mit anderen Fußballfans, Freunden und Angehörigen von Opfern. Sie halten vor dem Bataclan und der Bar »La Belle Equipe« Schweigeminuten ab, ziehen sonst aber laut singend durch die Straßen. Aggressiv wirkt das nicht, Passanten und Anwohner reagieren zustimmend. Die Polizei bleibt dieser ganz anderen Art des Gedenkens fern.
Paris zeigt sich an diesem Wochenende von einer überwältigend schönen Seite. Das Gedenken ist maßvoll und vielfältig, mal staatstragend, mal individuell, mal religiös, mal betroffen und mal wohltuend laut. Auch jenseits der organisierten Veranstaltungen folgen Menschen der Tradition, sich bei wichtigen Anlässen auf der Place de la République unter der Marianne zu treffen. Blumen und Kerzen um die Statue verbinden hier die republikanische Symbolik mit den Bürgern. Für eine Weile lassen sie vergessen, wie zerrissen die französische Gesellschaft ist. Und wie wenig Antworten es auf die weiterhin bestehende terroristische Bedrohung und andere dringende Probleme gibt.