Raucherecke

Neuköllner Nächte sind lang

Wie ein Exilamerikaner die US-Wahl in Berliner Szenebars erlebte.

»20 zu eins« sage ich ins Telefon. Ich laufe zu einer »Weltuntergangs- und Wahlparty« in einer Bar in Berlin-Neukölln. Meine deutsche Schwiegermutter hat mich gerade gefragt, wie ich die Chancen von Hillary Clinton einschätze. Mein Plan für den Abend: Ich trinke ein Bier. Um ein Uhr mitteleuropäischer Zeit sollten die ersten Ergebnisse von der Ostküste eintreffen. Sobald ich die ersten Anzeichen für Clintons Erdrutschsieg mit eigenen Augen gesehen habe, gehe ich ins Bett.
Über den Beamer läuft CNN, der kleine Laden ist vollgestopft wie bei einem Rockkonzert. Bis zu den ersten Ergebnissen dauert es noch drei Stunden. Ich hole mir ein Bier. Im Hinterzimmer bin ich bald mit einer jungen Frau ins Gespräch vertieft: Über wie viele Umzüge kamen wir jeweils dazu, uns irgendwo zwischen deutsch und amerikanisch zu fühlen? Auch diese Frau ist nicht aus Be­geisterung für Clinton da, sondern eher aus Angst, etwas zu verpassen. Wo warst du, als Trump fast Präsident geworden wäre? Einmal in der Stunde stolpern wir in den anderen Raum für ein Update von einem jungen Mann, der eisern auf die Leinwand starrt. »Clintons Sieg wird wohl ein bisschen knapper als erwartet.« Es ist ein Uhr und die ersten Ergebnisse haben an meiner grundsätzlichen Einschätzung nichts verändert. Ich bin inzwischen im Streit mit einem Kumpel aus der linken Szene wegen irgendeiner Kleinigkeit. Ich spüre Feierlaune.
Um drei Uhr geht der Bar das Bier aus. Meine Schwester schreibt mir eine Nachricht aus Texas: »Clinton is going to win, but it’s disturbingly close.« Wird es wirklich beunruhigend eng? Ich laufe zum Späti um die Ecke und erzähle den Typen hinter der Theke den neuesten Stand. Ich habe Karten von Florida gesehen mit sehr viel roter Farbe. Die Typen lachen, aber etwas beunruhigt wirken sie auch. Auf dem Weg zurück in die Kneipe der Gedanke: »Trump könnte Präsident werden.« Ich lache und lache. In der Bar wird die Stimmung rauer: Die Bernie-Fans sind sich sicher, dass die Demo­kraten die falsche Kandidatin nominiert haben. Die Clinton-Leute halten dagegen, dass die Sanderistas nicht energisch genug Wahlkampf für Hillary gemacht hätten. Als ich sage, dass ich Clinton und Trump gleichermaßen ablehne, werde ich angeschaut, als ob ich mir kleine Kätzchen zum Frühstück brate.
Um vier Uhr kommt die Polizei. Alle werden aus der Bar geworfen. Moment mal: Was haben sie gerade über Ohio gesagt? Jetzt geht ­alles ganz schnell. Is this really happening? Ich bin betrunken und suche auf meinem Handy nach Zahlen. Jetzt kommen Nachrichten von meinem Bruder. »Just … we are all going to die«, schreibt er. Ein paar Minuten später: »Nothing about this makes sense.« Zum Glück sind wir in Neukölln: Nach weniger als einem Kilometer finden wir eine weitere US-Bar mit einem Beamer. Ich bin noch betrunkener, aber nicht mehr glücklich, ich will mich übergeben und ins Bett legen. Diese Bar ist dunkel. Menschen heulen. Ein Typ brüllt den Nachrichtensprecher an, dann sinkt er in sich zusammen.
Um sechs Uhr werden wir auch aus dieser Bar rausgeworfen. Trump ist bei 244 Wahlmännern, Clinton bei 218. In der U-Bahn erzählen wir den verschlafenen Menschen auf dem Weg zur Arbeit, dass Trump gewonnen hat. Unglücklich sehen sie aus. Um elf Uhr stehe ich wieder auf. Mich grüßt ein orangefarbenes Gesicht. Die Website der kanadischen Einwanderungsbehörde soll in der Wahlnacht zusammengebrochen sein. Bei meinen Schwiegereltern, die aus Adenauer-Deutschland nach Westberlin gekommen sind, hängt eine Postkarte an der Wand: »Bleibe im Land und wehre dich täglich!« Das ist ein guter Spruch für enttäuschte Amis. Ich bin mir sowieso nicht sicher, wie viele tatsächlich das Land verlassen würden. Bei jedem Anlass drohen Amis mit Auswanderung – wer zieht das denn wirklich durch? Dann fällt mir ein: In Europa lebe ich seit 2001. Ein halbes Jahr nach der Amtsübernahme von George W. Bush bin ich abgehauen. Vielleicht zieht meine Familie wirklich bald nach.