Der »Islamische Staat« verübt immer mehr Anschläge in Afghanistan

Eine Bedrohung unter vielen

Der afghanische Ableger der Terrororganisation »Islamischer Staat« verübt immer häufiger Anschläge auf die schiitische Minderheit im Land. Auch die Taliban und andere Milizen sind weiter in Afghanistan aktiv. Trotz der sich verschlechternden Sicherheitslage sollen afghanische Flüchtlinge aus Europa weiterhin abgeschoben werden.

40 Tage vergehen zwischen Ashura und Arba’in, zwei wichtigen schiitischen Feiertagen. 41 Tage vergingen zwischen zwei verheerenden Anschlägen auf schiitische Einrichtungen in Kabul. Am Vorabend des Ashura-Festes, bei dem des Todes von Imam Hussein in der Schlacht von Kerbela im Jahr 680 gedacht wird, betraten zwei Männer in Polizeiuniform einen vollbesetzten schiitischen Schrein im Kabuler Viertel Kart-e Sakhi und begannen, wahllos um sich zu schießen. 16 Menschen wurden bei diesem Anschlag am 11. Oktober getötet, über 50 wurden verletzt. Am 21. November – die 40tägige Trauer um Hussein und die Opfer des Anschlages in Kart-e Sakhi war gerade zu Ende gegangen – wurde erneut ein Anschlag auf eine schiitische Stätte verübt. Viele Gläubige hatten sich an jenem Montag zum Arba’in-Tag in der Baqir-ul-Ulum-Moschee im Kabuler Osten versammelt, um nochmals Imam Husseins zu gedenken. Unter ihnen war ein Selbstmordattentäter des »Islamischen Staats in der Provinz Khorasan« (ISKP), der bei der Detonation seiner Sprengstoffweste 30 Menschen mit in den Tod riss und zahlreiche weitere verletzte; einige von ihnen schweben noch immer in Lebensgefahr. Die afghanische Regierung verurteilte den Anschlag als »Kriegsverbrechen«.
Im Januar 2015 bestätigte ein Sprecher des »Islamischen Staats« (IS) im syrischen Raqqa erstmals offiziell die Existenz eines »Islamischen Staats in der Provinz Khorasan«. Der historische Begriff »Khorasan« umfasst fast vollständig das heutige Afghanistan sowie Teile Irans und Pakistans. Erstmalig in Erscheinung getreten war der ISKP Mitte 2014 in den östlichen afghanischen Provinzen Nangarhar und Logar. Die dominante Strömung innerhalb der Taliban-Bewegung hat in dieser Region wenig Kontrolle und die lokalen Machtkämpfe verschiedener Gruppen ermöglichten den Aufstieg des ISKP. Dabei waren es weniger Heimkehrer, die in Syrien oder dem Irak gekämpft hatten, sondern ehemalige Angehörige der Taliban und anderer islamistischer Gruppen, die sich ab 2014 unter dem Banner des IS organisierten. Im Jahr 2015 blieb der ISKP weitestgehend ein lokales Phänomen in einigen südlichen und östlichen Provinzen Afghanistans. Im Süden, in den Provinzen Helmand und Farah, wurden die zum ISKP übergelaufenen Taliban-Kämpfer in Gefechten mit ehemaligen Waffenbrüdern deutlich dezimiert. Im östlichen Landesteil, insbesondere in der Provinz Nangarhar konnte sich der ISKP allerdings etablieren und begann beispielsweise damit, eine eigene Radiostation aufzubauen. Zu Beginn des Jahres 2016 wurde die Zahl der Kämpfer in Nangarhar auf etwa 2 500 geschätzt, Vorstöße in andere Provinzen waren aber meist von kurzer Dauer und wenig erfolgreich. Seit diesem Jahr machten außerdem mehrere Kabuler Zellen des ISKP von sich reden und beanspruchen die Verantwortung für über ein Dutzend Attacken in der Hauptstadt.
Zwar ist nicht in allen Fällen gänzlich sicher, dass der ISKP tatsächlich Urheber der Anschläge war. Viele der Attacken besitzen jedoch eine traurige Gemeinsamkeit. Sie zielen darauf ab, konfessionelle oder ethnische Spannungen innerhalb der Gesellschaft zu verstärken. In den vergangenen Jahren lebten die schiitische Minderheit, überwiegend Hazara, und die sunnitische Mehrheit der Bevölkerung weitestgehend frei von konfessionellen Konflikten zusammen, auch wenn islamistische Anschläge sich häufig gegen die Hazara richteten. Neben den beiden Anschlägen während Ashura und Arba’in bekannte sich der ISKP auch zu einem Bombenanschlag auf eine große Demonstration im Juli dieses Jahres, die sich gegen die Änderungspläne zum Bau einer Stromtrasse richtete und an der vorwiegend Hazara teilnahmen. Mehr als 80 Menschen wurden bei diesem größten Anschlag seit Beginn der von den USA angeführten Intervention 2001 getötet, weit über 200 verletzt. Im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet bekannte sich der ISKP zu gezielten Tötungen von gemäßigten muslimischen Geistlichen.
Das Auftreten und die Vorgehensweise der Islamisten könnten nach Einschätzungen Borhan Osmans vom Afghanistan Analysts Network verheerende Folgen haben. Zum einen bestehe die Gefahr, dass der ISKP eine gewisse Attraktivität für enttäuschte islamistische Kräfte entwickelt und als Sammelbecken fungiert, denn er ist seit langem die erste islamistische Gruppe, die offen die Hegemonie der Taliban in Frage stellt und sich mit noch radikaleren Positionen zu profilieren versucht. Zum anderen verstärke der ISKP mit der Konfessionalisierung und damit verbundenen Ethnisierung der Gewalt bestehende Spannungen, die den innerafghanischen Friedensprozess erheblich erschweren.
Der zumindest in Kabul erstarkende ISKP ist allerdings nicht der einzige Akteur, der die ohnehin labile Sicherheitslage in Afghanistan weiter destabilisiert. Es vergeht kaum ein Tag ohne Bombenanschläge, Kampfhandlungen, Drohnenattacken oder gezielte Attentate. Sowohl die Intensität der Kämpfe als auch die Größe der Kampfgebiete steigen. Die UN-Mission für Afghanistan vermeldete für das erste Halbjahr 2016 einen neuen Höchststand der zivilen Opfer des Krieges; in bisher als ruhig geltenden Bereichen Afghanistans finden Kämpfe zwischen Taliban und Regierungstruppen statt. Jüngstes Beispiel dafür ist der Angriff der Taliban auf das deutsche Generalkonsulat in Mazar-i-Sharif vom 10. November. Bis dato galt die Stadt als eine der sichersten in ganz Afghanistan und wurde von deutschen Politikern als einer der Orte für Abschiebungen von abgelehnten afghanischen Asylbewerbern in die Diskussion gebracht. Nur einen Tag später wurde der nördlich von Kabul gelegene US-Stützpunkt Bagram angegriffen, der als überaus gut gesichert galt. Da­rüber hinaus haben die Taliban eine Stärke erlangt, die es ihnen erlaubt, nicht länger nur Guerillaattacken auszuführen, sondern klassische Frontverläufe zu eröffnen und ganze Distrikte dauerhaft unter ihre Kontrolle zu bringen.
Wie schwierig die Einschätzung der Akteure und ihres Bedrohungspotentials ist, zeigt ein Blick auf die Provinz Kunduz. Während die Hauptstadt der Provinz in den hiesigen Medien vorwiegend wegen des dortigen deutschen Stützpunkts und der Attacken auf die Stadt durch die Taliban auftaucht, verweist der Bericht des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (EASO) auf eine weitere Dimension des Konflikts. Die lokale Bevölkerung berichte immer wieder von Menschenrechtsverletzungen durch lokale Milizen, die der Staat im Kampf gegen die Taliban kooptiert hat. So beruhe die Unterstützung der Taliban oft mehr auf einem existentiellen Sicherheitsbedürfnis als auf fanatischem Islamismus. Die Zivilbevölkerung kann in solchen Situationen nur verlieren. Entweder befindet sie sich in Kampfgebieten zwischen den Taliban, der afghanischen Armee und Milizen oder sie leidet unter der Repression der jeweiligen Herrschenden. Als Konsequenz fliehen immer mehr Menschen aus den umkämpften Regionen in urbane Räume, in Nachbarländer oder nach Europa. So stieg die Zahl der Binnenflüchtlinge im Laufe dieses Jahres auf über eine Million und bis zur Schließung der »Balkanroute« und dem EU-Türkei-Abkommen wuchs auch in Deutschland und Europa die Zahl afghanischer Asylsuchender.
Vor der diesjährigen Afghanistan-Konferenz in Brüssel wurde ein »Memorandum of Understanding« verabschiedet, in dem die deutsche und afghanische Regierung ihre Absicht erklärten, abgelehnte afghanische Asylbewerber abzuschieben beziehungsweise aufzunehmen. Zuvor hatte der deutsche Innenminister Thomas de Maizière mehrfach betont, dass Abschiebungen nach Afghanistan notwendig und vertretbar seien. Die Sicherheitslage wird dabei meist als »volatil« beschrieben, was Kritiker als Euphemismus für »unberechenbar« verstehen. An der Beurteilung der Sicherheitslage scheint die Anschlagsserie der vergangenen Monate nichts zu ändern. Die Zeit berichtete vor kurzem vielmehr, dass politischer Druck auf das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) ausgeübt werde, Asylanträge aus Afghanistan mehrheitlich negativ zu bescheiden. Die ersten Abschiebeflüge nach Afghanistan waren für November angekündigt, zudem soll ein zusätzliches Terminal am Kabuler Flughafen gebaut werden. Bisher scheinen allerdings viele Landesinnenministerien den Anweisungen aus dem Bundesministerium nicht zu folgen, sie melden keine abzuschiebenden Personen für die geplanten Flüge nach Afghanistan.
Welch lebenswichtige Bedeutung der Widerstand der Landesinnenministerien haben kann, wird bei einem Blick nach Norwegen deutlich. Eine afghanische Familie, die eine Woche zuvor von dort abgeschoben worden war, hielt sich am 21. November in Kabul auf, der jüngste Sohn wurde bei dem Anschlag verletzt. Weder für seine Familie noch für andere sei Afghanistan sicher, sagte der Vater des Jungen nach dem Anschlag.