In Afghanistan ist es für Flüchtlinge keineswegs sicher

Das Leben unter dem Hubschrauber

In vielen Landesteilen Afghanistans ist es in trotz gegenteiliger Meinung der deutschen Bundesregierung und einiger Landes­regierungen keinesfalls sicher. Trotzdem sollen afghanische Flüchtlinge dorthin abgeschoben werden. Das Land ist aber bereits mit den vielen Binnenflüchtlingen und Abgeschobenen aus den Nachbarländern überfordert und bietet der Bevölkerung kaum ökonomische Perspektiven.

Es ist kalt in Kabul im Dezember, der Winter rollt heran vom Hindukusch. Rauch aus Millionen von Holzöfen steigt in höhere Luftschichten auf und erreicht die vier Überwachungszeppeline, die das US-Militär ständig über der Stadt kreisen lässt, um jede Bewegung der vier Millionen Einwohner zu be­obachten. 
Doch dass Überwachung und Sicherheit nicht Hand in Hand gehen, ist in Kabul offensichtlich: 270 Todesopfer durch Anschläge hat es in der Stadt im vergangenen Jahr gegeben. Das Auswärtige Amt warnt dringend vor einem Aufenthalt in Afghanistan, die Adressaten sind natürlich Deutsche. Auch ein ehemaliger Abgeordneter des deutschen Bundestags, der viel zu Afghanistan gearbeitet hat, rät von einer Reise ab: »Man kann sich dort nur noch im Hubschrauber bewegen.« Einen Einblick in das Leben eines Flüchtlings, der nach Afghanistan abgeschoben wurde, bekommt man von dort oben sicher nicht. So geht es vielen Entsandten, die hier arbeiten. »Das Bodenpersonal der Vereinten Nationen, von NGOs und Botschaften bekommt das Land überhaupt nicht zu sehen. Mancher arbeitet schon seit Jahren hier und hat bis auf den Flughafen noch nie afghanischen Boden betreten«, erzählt der Leiter einer Or­ganisation der Vereinten Nationen. Das Personal dürfe die von hohen Mauern, die gegen Selbstmordattentate schützen sollen, umgebenen Arbeitsplätze nicht verlassen.
Und doch soll es hier sicher sein – so sicher, dass afghanische Flüchtlinge aus Deutschland nun wieder abgeschoben werden sollen, so sehen es die deutsche Bundesregierung und einige Landesregierungen. Es handelt sich dabei um eine innenpolitische Auseinandersetzung um Obergrenzen, Verantwortung und Solidarität, ausgetragen auf dem Rücken der Geflüchteten. Die Bundesregierung spricht davon, dass es sichere Orte in Teilen Afghanistans gebe – und meint damit, dass die Abgeschobenen dort nicht sofort erschossen werden. Aber Sicherheit ist mehr als das Ausbleiben des eigenen Todes. Sicher sind Menschen nur, wenn es eine langfristige Perspektive des ­Lebens und nicht nur Überlebens gibt. Afghanistan kann ihnen das zurzeit nicht bieten.

Aufrüsten für Sicherheit

Bereits bei der Ankunft in Afghanistan sind die Spuren des Kriegs nicht zu übersehen. Am Flughafen in Kabul werden Ankommende auf drei verschiedene Parkplätze für unterschiedlich stark gefährdete Personengruppen geleitet. Diplomatinnen und Diplomaten mit Rollkoffern besteigen ihre Wagen, um mit einer Eskorte von gepanzerten Fahrzeugen die Stadt zu durchqueren. NGO-Personal und scharenweise ins Land entsandte Entwicklungshelferinnen und -helfer steigen in gepanzerte Jeeps. Die meisten kehren aus dem Heimaturlaub zurück. Alle paar Wochen gehe es nach Hause, mehr sei dem Personal nicht zuzumuten, erzählt eine Botschaftsmitarbeiterin. Der dritte Parkplatz verteilt die übrigen Passagiere auf gepanzerte, auffällige Fahrzeuge mit bewaffneten Beschützern und auf alte Autos mit kaputten Stoßdämpfern und gesprungenen Windschutzscheiben. Ein klappriger Toyota als Fortbewegungsmittel schützt zwar nicht vor magnetischen Sprengsätzen, die von unten am Fahrzeug angebracht werden, aber man fällt damit nicht so auf und kann sich freier in der Stadt bewegen.
Panzer und Militärjeeps mit groß­kalibrigen Maschinengewehren säumen die Straßen in Kabul, Geschäfte und Restaurants werden von Männern mit Kalaschnikows bewacht. Der Leiter einer deutschen Nichtregierungsorganisation erzählt, dass er immer zu unterschiedlichen Zeiten das Haus verlässt, damit Banden, die ihr Geld mit Entführungen verdienen, kein Bewegungsprofil von ihm anlegen können. 
Um zur Botschaft der Europäischen Union zu gelangen, müssen vier Sicherheitskontrollen durchlaufen werden. An jeder Station kontrolliert eine andere Sicherheitsfirma die Besucherinnen und Besucher, damit das Leben des Botschaftspersonals nicht in den Händen einer einzigen Firma liegt. Es geht um gegenseitige Kontrolle und einen Plan B und C, falls doch einmal eine der Sicherheitsfirmen die Seiten wechselt.

Vertrieben und abgeschoben

Wer hinter diesen Kontrollstellen lebt und arbeitet, hat kaum die Möglichkeit, die Straßen Kabuls zu erleben. Dennoch übt dieser abgeschottete Personenkreis enormen Einfluss auf die Politik des Landes aus, bestimmt über die Gelder für »Entwicklungshilfe« und damit den Großteil des Staatshaushalts und der Investitionen. Erst recht nicht zu sehen bekommen die hinter Mauern Verschanzten das Leben in den Flüchtlingscamps, die für rund 1,2 Millionen Menschen das einzige Zuhause in dem zerstörten Land sind. Knapp 700 000 Flüchtlinge leben allein in den Camps in den Grenzregionen, seit sie von Pakistan und dem Iran nach Afghanistan abgeschoben wurden. Die Versorgung mit Strom, Wasser, me­dizinischer Hilfe und Zelten ist rudimentär, denn die Situation in den Grenzgebieten ist schwierig. 
Die meisten dieser sogenannten Rückkehrer sind während der vergangenen 30 Jahre des Krieges in die Nachbarländer geflüchtet und haben sich dort in die Städte und Dörfer integriert. Jetzt werden sie aus ihrem Leben herausgerissen, weil sich die Beziehungen zwischen Afghanistan und seinen Nachbarstaaten in den vergangenen Jahren verschlechtert haben. Die afghanische Regierung beschuldigt Pakistan, zu wenig gegen die Taliban zu unternehmen, die ihre Rückzugsgebiete auf pakistanischem Territorium haben. Es gibt vereinzelt Gefechte zwischen den Armeen der beiden Staaten. Pakistan hat begonnen, Millionen Afghaninnen und Afghanen, die dort Zuflucht vor dem Krieg gesucht haben, ohne Vorwarnung in ihr Herkunftsland zurückzusenden. 
»Seit 30 Jahren lebt meine Familie in Pakistan, ich bin dort geboren. Letztes Jahr hat uns die Regierung aufgefordert das Land zu verlassen. Wir hatten sieben Tage, um unsere Sachen zu packen. Dann bin ich zu meinem Onkel nach Kabul gegangen«, erzählt Farid*, ein afghanischer Flüchtling, der in Kabul gerade eine Suppenbar eröffnet hat. Seine Familie ist noch im Grenzgebiet, wo es immer wieder Gefechte zwischen den Armeen gibt.
Falls es das Ziel Pakistans war, durch die Abschiebungen Afghanistan zu ­destabilisieren, war es damit erfolgreich. Auch der Iran hat allein im vergangenen Jahr etwa eine halbe Million Afghaninnen und Afghanen abgeschoben und damit gezeigt, dass das Regime erheblichen Einfluss auf die humanitäre Situation in Afghanistan ausüben kann. Das setzt die afghanische Regierung unter Druck. Die Flüchtlinge werden auch hier zum politischen Spielball und ihre Rechte werden nicht respektiert.
Überall, wo es in Kabul noch brachliegendes Land gibt, errichten Geflüchtete Zeltsiedlungen. Kinder mit zerrissener Kleidung säumen die Märkte und betteln. Es ist ihre einzige Möglichkeit, an etwas Essbares zu kommen. In Afghanistan gibt es im Jahr 2016 mehr Flüchtlinge, als Deutschland in den Jahren 2015 und 2016 aufgenommen hat – eine nicht zu bewältigende Aufgabe für das arme Land. Zu denen, die aus Europa und den Nachbarländern abgeschoben wurden, kommen rund 600 000 Binnenflüchtlinge. Die meisten von ihnen fliehen vor den Taliban, die auf dem Vormarsch sind und schon gut ein Drittel des Landes kontrollieren. Wo die Taliban herrschen, wüten sie gegen religiöse Minderheiten und bekämpfen alles, was von der Zentralregierung im vergangenen Jahrzehnt aufgebaut wurde.

Flüchtlingslager bei Mazar-i-Sharif

Ordentlich, aber nicht einladend. Flüchtlingslager bei Mazar-i-Sharif

Bild:
Erik Marquardt

Not macht kriegerisch

In einem Flüchtlingslager in einem Vorort von Mazar-i-Sharif für binnenvertriebene Schiiten wird schnell klar: Es fehlt am Nötigsten. Bei Minusgraden haben Kinder keine Schuhe an und klammern sich zum Schutz gegen die Kälte an mit Warmwasser gefüllte Kanister. Die meisten Flüchtlingslager sind außerhalb der Städte, das erschwert es deren Bewohnerinnen und Bewohnern, Arbeit zu finden. »Die Taliban haben unser Dorf angegriffen und wir mussten sofort fliehen. Manche sind auf dem Weg erschossen worden. Jetzt versuche ich, als Tagelöhner in Ziegel­fabriken Geld zu verdienen. Aber es gibt dort nur alle zwei Tage etwas zu tun und meistens auch viel zu wenig«, erzählt ein junger Schiit. Unterstützung vom Staat gibt es nicht und auch die Hilfsorganisationen müssen ständig weiterziehen, denn das Geld reicht nicht, um längerfristig planen zu können.
»Die Not ist der beste Anwerber für die Gottesarmee der Taliban. In Medressen (Koranschulen, Anm. d. Red.) bekommen die Auszubildenden Essen und Schlafplätze. Oder die Taliban zwingen Familien, ein Kind als Schutzpfand abzugeben«, sagt Danyal*, der es geschafft hat, nach Deutschland zu fliehen. Jetzt ist er zurück in Kabul und will seine Eltern in einem Dorf 30 Kilometer vor Kabul besuchen, doch das geht nicht. Denn selbst dort, kurz vor den Toren der Hauptstadt, herrschen bereits wieder die Taliban. Es ist bezeichnend, dass die Zentralregierung selbst die Hauptstadtregion nicht vollständig unter ihrer Kontrolle hat. Im Rest des Landes sind Anschläge längst wieder an der Tagesordnung. Aber die Taliban agieren nicht allein: In den Diplomatenkreisen Kabuls wird davon gesprochen, dass neben Pakistan nun auch Russland die Taliban im Norden finanziere. Die russische Regierung will einen Fuß in die Tür bekommen und hat ohnehin noch eine alte Rechnung mit den USA offen.

Kaum Perspektiven

Der Versuch, die Regionalabteilung des Migrationsministeriums in Mazar-i-Sharif zu erreichen, schlägt fehl. Es soll dort noch nicht einmal Büromöbel geben. »Die Behörde in dieser Region ist deshalb nicht voll einsatzfähig«, sagt ein Mitarbeiter. Die Staatssekretärin für Flüchtlinge, Dr. Alema Alema, ist seit April vergangenen Jahres im Amt. Bisher konnte sie sich aber noch nicht mit den Binnenflüchtlingen und Abgeschobenen in den Grenzgebieten zu Pakistan und dem Iran beschäftigen, sie muss stattdessen Regierungsvertreterinnen und -vertreter aus Deutschland und anderen europäischen Ländern treffen. Das Interesse an Alema ist groß – alle wollen ein Abschiebeabkommen mit ihr erarbeiten, so dass noch mehr Menschen nach Afghanistan zurückgeschickt werden können. Die Ministerin hat keine Wahl, denn es handelt sich um dieselben Regierungen, die die Programme ihrer Behörde für Binnenflüchtlinge und Rückkehrer aus dem Iran und Pakistan finanzieren.
Die ersten Abgeschobenen aus Deutschland, die am Flughafen im Kabul ankamen, wurden noch von den Medien empfangen. Doch es folgte die große Ungewissheit. »Wer Glück hat, kann bei der Familie unterkommen und muss dann nur fürchten, gebrandmarkt zu werden, weil er es nicht geschafft hat. Wenn die Familie nicht mehr da ist oder in von den Taliban kontrolliertem Gebiet lebt, wird es sehr schwierig«, sagt Samira Hamidi. »Das ist aber nur die Perspektive für Männer. Wie es vertriebenen Frauen ergeht oder was mit zurückgelassenen Frauen passiert, ist um ein Vielfaches schlimmer. Noch weniger als die Schicksale der Männer interessieren die Leben der Frauen«, fügt die Frauenrechtlerin hinzu.
Wirtschaftlich geht es Afghanistan schlecht. Seit die »internationale Gemeinschaft« nicht mehr mit viel Militär und vielen Entwicklungshilfeorgani­sationen vor Ort ist, sind die Geschäfte eingebrochen. Wegen des ökonomischen Niedergangs und der politischen Instabilität ist es nicht mehr undenkbar, dass die Taliban das Land wieder übernehmen könnten. Jungen Afghaninnen und Afghanen bietet das Land kaum Perspektiven, so ist Flucht für viele der einzige Ausweg.
Etwas besser geht es Saboor*, einem afghanischen Journalisten, der für die großen Sender der Welt aus Afghanistan berichtet hat. Er ist Mitte 30 und gehört der extrem kleinen, reichen Oberschicht des Landes an. Sein Haus in Kabul ist mit hohen Mauern und Stacheldraht gesichert. Ein ehemaliger Mujahedin-Kämpfer wohnt bei ihm und bewacht die Anlage mit einer Kalaschnikow. Doch obwohl Saboor Pro­fiteur der Präsenz von Nato und UN ist, findet er, dass die internationale Koalition das Land verlassen soll. »Die sind schon zu lange hier. Und es kommen doch trotzdem täglich Kindersärge aus den Kampfgebieten mit den ­Taliban. Das Land ist nicht sicherer geworden, hier ist immer noch Krieg – wie seit 30 Jahren. Die Mission war erfolglos.« Auf die Frage, was passiert, wenn der Westen das Land wieder verlässt, hat er keine Antwort. Aber es sei ihm auch egal – denn so, wie es ist, könne es auch nicht bleiben. Saboor hat sein Land noch nie im Frieden erlebt.

* Name von der Redaktion geändert.