Die Gedenkveranstaltung für den vom NSU ermordeten Halit Yozgat in Kassel

»Kein nächstes Opfer«

Raucherecke Von

Ismail Yozgat ist wütend. Laut ruft er auf Türkisch ins Mikrophon: »Was würden Sie tun, wenn Ihr einziger Sohn grundlos ermordet wird und in Ihren Armen sterben muss?« Um ihn herum stehen auch die anderen Angehörigen von Halit Yozgat, dessen Todestag sich an diesem 6. April 2017 zum elften Mal jährt. Zuvor waren 400 Menschen unter dem Motto »Kein nächstes Opfer« durch die Kasseler Innenstadt gezogen.
Kein nächstes Opfer? Vor fast elf Jahren organisierte der Ausländerbeirat Kassel gemeinsam mit drei Opferfamilien eine Demons­tration. Die Forderung der rund 4 000 vor allem migrantischen Menschen war damals, dass es kein zehntes Opfer geben dürfe. Lange vor den Behörden ahnten die Angehörigen der Opfer des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU), was die ermittelnden Polizisten nicht wahrhaben wollten: Eine Gruppe Neonazis zog mordend durch die Bundesrepublik, unterstützt von einem neonazistischen Netzwerk und durch das aktive Wegschauen der Behörden, teilweise sogar indirekt finanziert vom Verfassungsschutz.

Auch elf Jahre nach dem Mord an Halit Yozgat ist der NSU-Komplex längst nicht aufgeklärt. Die Demonstrierenden in Kassel prangern den Staat an, sie beklagen institutionellen Rassismus. Die 400 Menschen, die an jenem Mittag vor dem Kasseler Rathaus stehen, tragen Bilder von allen bekannten NSU-Mordopfern vor sich her, wie vor elf Jahren. Eine Szenerie, die die Aufmerksamkeit vieler Passanten erregt: Sie schauen hin, fragen nach und werden informiert. Neben dem Gedenken an das neunte Opfer des NSU, Halit Yozgat, steht an diesem Tag aber noch eine andere Person im Blickpunkt: der ehemalige Verfassungsschutzbeamte Andreas Temme. Er war im von Yozgat betriebenen Internetcafé, als dieser dort erschossen wurde. Doch weder während des Mordes noch kurz danach, als er Geld auf den nur 80 Zentimeter hohen Tresen legte und den Laden verließ, will er etwas gesehen oder gehört haben. Ismail Yozgat sagt: »Als ich am Tatort ankam und in der Tür stand, habe ich den Körper meines Jungen gesehen.«
Kurz nach Ismail Yozgat spricht eine Vertreterin der Forschergruppe Forensic Architecture aus London. Beauftragt vom Projekt »NSU-Tribunal« hat das unabhängige Institut den Kasseler Tatort eins zu eins nachgebaut. Den Mitarbeitern lag ein Video vor, auf dem Temme seine Version der Situation nachspielte. Die Forensiker stellten alles nach: die Lautstärke der Schüsse mit Schalldämpfer, die Position des Körpers von Halit Yozgat, einen zentimetergetreuen Nachbau des gesamten Internetcafés, den Weg von Temme aus dem Hinterraum des Cafés zur Tür, zum Tresen und nach draußen. Zwei Punkte erhärten nun den Verdacht: Temme muss die Schüsse gehört und Halit Yozgats Körper gesehen haben. Familie Yozgat ist erschüttert. Warum Halit ermordet wurde und wer ihn ermordete – diese Fragen treiben die Familie noch immer um. Aufklärung ist nicht in Sicht. Ismail Yozgat prophezeite den Behörden deshalb: »Sie werden mit dem Vernichten von Akten, dem Beseitigen von Beweismitteln, mit dem Zumschweigenbringen von Zeuginnen und Zeugen nichts erreichen.«