Immer mehr Menschen in Deutschland sind von prekären Arbeitsverhältnissen abhängig

Hauptsache Arbeit

Die Zahl prekärer Beschäftigungsverhältnisse hat einen neuen Höchststand erreicht. Während die Bundesregierung die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt als Erfolg feiert, sind immer mehr Menschen gezwungen, in Teilzeit, Leiharbeit oder Minijobs ihr Geld zu verdienen.

Unbefristete Vollzeitjobs, die vollständig in die paritätisch durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer finanzierten sozialen Sicherungssysteme eingebunden sind, als übliche Form der Beschäftigung – das war einmal. Immer mehr werden diese Normalarbeitsverhältnisse von sogenannten atypischen Beschäftigungsverhältnissen abgelöst. 2016 entfielen bereits fast 40 Prozent der abhängigen Hauptbeschäftigungsverhältnisse auf Teilzeitstellen, Minijobs oder Leiharbeitsverträge, wie das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung kürzlich bekanntgab.

Damit hat die Zahl solcher »atypischen« Jobs einen neuen Höchststand erreicht. »Insbesondere die Zahl der Teilzeit- und Leiharbeiter hat 2016 weiter zugenommen«, sagte der Arbeitsmarktexperte des WSI, Toralf Pusch. Auch die Zahl der Minijobs stieg an – auf mehr als 7,7 Millionen.

Die Hoffnung auf ein baldiges Ende der sogenannten Teilzeitfalle wurde Ende Mai enttäuscht.

Leicht zurückgegangen ist zwar die Zahl derjenigen, für die ein Minijob die Haupterwerbsquelle darstellt. Doch ­arbeiten immer noch mehr als fünf Millionen Lohnabhängige ausschließlich als Minijobber. Das sind 14,1 Prozent der insgesamt Beschäftigten. Sie besitzen nicht nur so gut wie keine soziale Absicherung, sondern beziehen besonders häufig Niedriglöhne. Gut 70 Prozent dieser Gruppe von Minijobbern verdienen weniger als 9,75 Euro die Stunde. Bei Vollzeitbeschäftigten sind es nur elf Prozent. Wie aus einer Studie des WSI vom Januar 2017 hervorgeht, erhalten viele Minijobber noch nicht einmal den ­gesetzlichen Mindestlohn. So liegt das Einkommen von knapp der Hälfte der geringfügig Beschäftigten unter der Lohn­untergrenze. Teilweise werden sogar extrem niedrige Stundenlöhne ­bezahlt. Etwa jeder fünfte Minijobber bekommt weniger als 5,50 Euro brutto pro Stunde. Den Autoren der Studie zufolge fügt sich die Missachtung des Mindestlohngesetzes in das Muster der insgesamt problematischen Arbeits­bedingungen bei Minijobs. So erhielten viele geringfügig Beschäftigte keine Lohnfortzahlung bei Krankheit oder im Urlaub. Auch gegen die gesetzlichen Regelungen für Arbeits- und Ruhezeiten werde häufig verstoßen.

Angestiegen ist auch die Zahl der Arbeitsverhältnisse in Teilzeit. Mit etwa 23 Prozent aller abhängig Beschäftigten sind sie die häufigste Form der atypischen Beschäftigungen. Alleine in den vergangenen acht Jahren wuchs die Zahl der Teilzeitbeschäftigten um fast drei Millionen auf knapp achteinhalb Millionen an. Zwar weist das WSI darauf hin, dass nicht jede Teilzeitarbeit auch prekär sein muss. Die Zahl der Niedriglohnbezieher ist jedoch auch hier überdurchschnittlich hoch. Fast ein Drittel der Betroffenen verdient weniger als 9,75 Euro die Stunde. Zudem wollen viele Teilzeitbeschäftigte – vor allem aus finanziellen Gründen – eigentlich länger beziehungsweise in Vollzeit ­arbeiten.

Die Hoffnungen auf eine baldige Änderung dieser Situation und ein Ende der sogenannten Teilzeitfalle, in der sich vor allem viele weibliche Beschäftigte befinden, wurden Ende Mai enttäuscht. Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) musste bekanntgeben, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel ihren Gesetzentwurf zum Rückkehrrecht ehemals Vollzeitbeschäftiger  von Teil- auf Vollzeit abgelehnt habe und sich das Regierungskabinett nicht mehr damit befassen werde. Das Gesetzesvorhaben sollte Teilzeitbeschäftigten in Betrieben mit mindestens 15 Mitarbeitern die Rückkehr in eine Vollzeitstelle erleichtern und war Teil des Koa­litionsvertrags zwischen CDU, CSU und SPD.

Ebenfalls gestiegen ist auch in diesem Jahr der Anteil der Leiharbeit, der an der Gesamtbeschäftigung inzwischen 2,6 Prozent ausmacht. Mit fast einer Million Leiharbeitnehmern gab es 2016 einen neuen Höchststand. Nach dem krisenbedingten Rückgang der Leiharbeit 2009, bei dem Hunderttausende ihren Arbeitsplatz verloren und die Zahl der auf Leihbasis Beschäftigten auf knapp 500 000 fiel, hat sich ihre Zahl innerhalb von acht Jahren fast verdoppelt. Seit der 2003 erfolgten Neufassung des »Gesetzes zur Arbeitnehmerüberlassung« im Zuge der »Agenda 2010« von SPD und Grünen hat sich die Zahl der Leiharbeitnehmer sogar mehr als verdreifacht. Neben der permanenten Unsicherheit ist die Leiharbeit für die Betroffenen auch mit schlechter Bezahlung verbunden. Beinahe die Hälfte arbeitet zu Niedriglöhnen.

Wie unterschiedlich Daten interpretiert werden können, zeigt ein Blick auf die Stellungnahmen der Bundesregierung zur derzeitigen Arbeitsmarktsituation. Die Bundesregierung zieht aus den aktuellen Zahlen der Bundesagentur für Arbeit vollkommen andere Schlüsse als das gewerkschaftsnahe WSI. »Erwerbstätigkeit und sozialversicherungspflichtige Beschäftigung ­haben erneut kräftig zugenommen«, heißt es in der Pressemitteilung der Bundesregierung. Die Nachfrage nach Arbeitskräften sei ungebrochen. »Die aktuellen Arbeitsmarktzahlen aus Nürnberg sind höchst erfreulich. Die sozialversicherungspflichtige Beschäf­tigung ist auf Rekordniveau und hat noch einmal zugelegt«, kommentierte Arbeitsministerin Nahles die neuen Zahlen der von ihrem Ministerium beaufsichtigten Behörde. Zwar weist auch das WSI darauf hin, dass die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Vollzeit im vergangenen Jahr gewachsen ist, stellt dieser jedoch die noch stärker angestiegene Zahl atypischer Beschäftigungsverhältnisse ­gegenüber. Weder in der Pressemitteilung der Bundesregierung noch im Statement von Nahles findet dieser Punkt Beachtung. Die steigende Zahl von Minijobs, Leiharbeitsstellen und Teilzeitbeschäftigung wird dort nicht erwähnt.