Helge Lehmann, IT-Spezialist, über seine Recherchen zum Tod der RAF-Gefangenen in Stammheim 1977

»Diskussionen sind weiterhin wichtig«

Helge Lehmann ist IT-Spezialist und war Betriebsrat in einem transnationalen Unternehmen. 2011 gab er nach mehrjährigen Recherchen das Buch »Die Todesnacht in Stammheim. Eine Untersuchung: Indizienprozess gegen die staatsoffizielle Darstellung und das Todesermittlungsverfahren« heraus.
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Am 18. Oktober jährt sich die sogenannte Todesnacht von Stammheim zum 40. Mal, in der die RAF-Gefangenen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe in ihren Zellen in der JVA Stuttgart-Stammheim umgekommen sind. Kaum noch jemand zweifelt an der offiziellen Version, dass sie Selbstmord begangen hätten. Warum sind Sie da eine Ausnahme?

Meine Zweifel rühren von meinen Recherchen zur Todesnacht in Stammheim. Zahlreiche Punkte sind ungeklärt oder wurden nicht in die Untersuchung des Todesermittlungsverfahrens aufgenommen. Die Indizienpunkte aus meinem Buch, die bisher niemand widerlegt hat, machen es nicht schwer, den Selbstmord anzuzweifeln.

Sie beschreiben sich als anfangs unpolitischen Menschen, der dann über vier Jahre für sein Buch recherchierte. Wieso nahmen Sie sich diese Zeit und wie finanzierten Sie sich und ihre Recherche?

Wenn ich erkenne, dass es bei irgendeiner Sache mehr zu erfahren gibt und sich irgendwelche Thesen als unschlüssig erweisen, möchte ich es genau wissen. Das hat dann mal mehr, mal weniger zeitintensiver Recherche zur Folge. Die Vorarbeiten zur »Todesnacht in Stammheim« waren extrem zeitintensiv, weil ich so viele Stränge untersuchen musste. Da ich einen Job habe und hatte, konnte ich nur nach Feierabend, am Wochenende und an freien Urlaubstagen daran arbeiten.

Wie gingen Sie bei Ihrer Recherche vor?

Da es keine Schemata gibt, begann ich logischerweise am Kernpunkt, der Todesnacht selbst, sowie am Auffinden der Toten und der verletzten Irmgard Möller. Ich sammelte Daten, holte mir in den verschiedenen Archiven verfügbare Akten und glich diese mit dem bereits vorhandenen Buchmaterial und Informationen im Internet ab. So kam ich Schritt für Schritt voran und baute um die Todesnacht die Geschichte immer weiter aus. Dazu habe ich praktische Untersuchungen unternommen, beispielsweise zur Lautstärke der Schüsse, um die Widersprüche aufzuzeigen.

Unmittelbar nach der Todesnacht von Stammheim bezweifelte ein großer Teil der Linken die Selbstmordthese. Ein internationaler Untersuchungsausschuss versuchte sich an der Aufklärung. Haben Sie sich auf dessen Arbeit gestützt?

Diese Untersuchungen habe ich im Nachgang mit meinen Recherchen abgeglichen. Hätte ich diese zur Grundlage genommen, wäre ich in meiner Ausarbeitung beeinflusst worden. Das hätte ich als keine gute Herangehensweise gesehen.

Sie haben sich ausgiebig mit dem behaupteten Waffenschmuggel in das Gefängnis und dem angeblichen geheimen Kommunikationssystem der Stammheimer Häftlinge auseinandergesetzt. Zu welchem Resultat kamen Sie?

Nach meinen Untersuchungen kam ich zum Ergebnis, dass der Waffenschmuggel nur möglich gewesen sein könnte, wenn die untersuchenden Beamten grob fahrlässig und dilettantisch gearbeitet hätten. Da sich die Beamten bei einem Waffenschmuggel selbst in Gefahr gebracht hätten und da es vor jeder Durchsuchung intensive Vorbereitungen gab, erscheint mir die Wahrscheinlichkeit des Schmuggels mehrerer Waffen und Patronen sowie einer Kochplatte und anderer Gegenstände gleich null. Auch der Versuchsaufbau der Kommunikationsanlage zeigt deutlich, dass mit dem in den Zellen vorhandenen Material eine solche Anlage spätestens ab Beginn der Kontaktsperre der Stammheim-Häftlinge nicht aufgebaut werden konnte.

Sie schreiben, dass ihre Untersuchungen die Form eines Indizienprozesses gegen die offizielle Version angenommen hätten. Wollen Sie damit zum Ausdruck bringen, dass sie keine Beweise haben?

In der Rechtsprechung ist ein Beweis mehr als ein Indiz, die Summe der Indizien kann als Beweis gelten. Selbstverständlich habe ich keinen Beweis. Ich war nicht dabei, keiner der beteiligten Beamten hat sich dahingehend geäußert. Jedes Gericht würde aufgrund dieser Indizienlage den Selbstmord nicht als das tatsächliche zweifelsfreie Ergebnis ansehen.

Wurden Sie bei Ihrer Recherchearbeit von ehemaligen RAF-Gefangenen und Anwälten unterstützt?

Ich konnte mit einigen ehemaligen RAF-Mitgliedern und einem der im Verfahren involvierten Anwälte sprechen.

Konnten Sie für Ihre Recherche staatliche Archive und Dokumente nutzen?

Ja, die zugänglichen Akten konnte ich einsehen und kopieren. Alle als streng geheim deklarierten Akten waren mir natürlich nicht zugänglich. Da gibt es also noch etwas zu erforschen

Warum gab es zum Jubiläum der Todesnacht von Stammheim keine Neuauflage Ihres Buches und wie war die Zusammenarbeit mit dem Verlag?

Es gibt eine leicht erweiterte Auflage, ergänzt durch unseren Antrag auf Wiederaufnahme des Todesermittlungsverfahrens beim Bundesgerichtshof und die Antwort darauf. Das Buch ist in vielen Online-Buchhandlungen verfügbar, aufgelegt habe ich es bei Books on Demand. Nähere Informationen gibt es auf der Website zum Buch unter www.todesnacht.com. Neue Indizien, die ich veröffentlichen könnte, sind bisher nicht aufgetaucht. Sollte sich das ändern, wären weitere Recherchen nötig. Schließlich müssen alle Informationen hinterfragt und abgeglichen werden. Das würde dauern und eine schnelle Veröffentlichung nur wegen des Datums ergibt für mich keinen Sinn. Außerdem sollte man sich zunächst mit den vorliegenden Indizien befassen, die Zweifel an der offiziellen Selbstmordversion aufkommen lassen.

Gehen Sie davon aus, dass eine Aufklärung der Todesumstände in Stammheim überhaupt noch möglich ist?

Das ist nicht absehbar. Das bisherige Interesse an der Aufklärung hält sich ja in Grenzen. Diskussionen sind aber weiterhin wichtig, um das ganze Thema zu verstehen. Es wäre allerdings nötig, dass sich mehr Menschen für das Thema zu interessieren beginnen.

In den späten siebziger Jahren gab es auch im Ausland, etwa in Holland und Frankreich, starke Zweifel an der offiziellen Version. Gab es von dort Reaktionen auf Ihr Buch?

Nach meiner Erinnerung gab es zwei Anfragen aus der Schweiz und Österreich. Wir hatten das Buch auch nicht in andere Sprachen übersetzt.

Waren Sie über die geringe Resonanz auf Ihr Buch enttäuscht? Schließlich wird es im Jubiläumsjahr kaum erwähnt und selbst in linken Zeitungen wird die Selbstmordthese kaum in Frage gestellt.

Nein, war ich nicht. Genauer gesagt, habe ich damit gerechnet, dass meine Recherche ignoriert wird. Schließlich schreiben die Sieger die Geschichte.

»Mir erscheint die Wahrscheinlichkeit des Schmuggels mehrerer Waffen und Patronen sowie einer Kochplatte und anderer Gegenstände gleich null.«

Es gibt auch ehemalige Gefangene wie Karl-Heinz Dellwo, die später sagten, die RAF-Gefangenen hätten über einen Selbstmord als selbstbestimmten Akt gesprochen, um sich der staatlichen Verfolgung zu entziehen. Wird die offizielle Version damit im Grunde gestützt?

Seine Darstellung schafft die von mir offengelegten Indizien nicht aus der Welt. Karl-Heinz Dellwo möge mir eine Erklärung liefern

Könnten die von Ihnen untersuchten Widersprüche nicht auch auf einen Selbstmord der Gefangenen unter staatlicher Aufsicht hinweisen? So könnte die schon immer stark bezweifelte Art des angeblichen Waffenschmuggels verschleiern, dass die Waffen mit Wissen staatlicher Stellen ins Gefängnis gelangt sind.

Ich will mich nicht an Spekulationen beteiligen. Wie erwähnt hätten sich alle direkt Beteiligten mit dem Waffenschmuggel selbst in Gefahr gebracht. Ich kann nur auf die in meinem Buch vorgelegten Indizienpunkte hinweisen. Warum löste niemand diese Punkte auf oder versucht, sie zumindest zu erklären?

2027 dürfte es zum 50. Jubiläum der Stammheimer Todesnacht eine besonders große Aufmerksamkeit geben. Arbeiten Sie weiterhin an diesem Thema?

Es kommen immer noch regelmäßig Fragen und auch Hinweise an mich, mit denen ich mich beschäftige. Es wird sicherlich weitergehen, bis eine unumstößliche Aufklärung erreicht wird.