Schauprozesse gegen Lehrer und Künstler in der Türkei

Kafkaeske Schauprozesse

Das Regime des türkischen Präsidenten Erdoğan kriminalisiert nicht nur entlassene Lehrkräfte, sondern bedroht die unabhängige Kulturszene.

Auf Facebook präsentiert sich die Cartoonistin Zeynep Özatalay bunt und lebensfroh. Das Profilbild zeigt ein Porträtfoto unter einer Weinrebe, die Trauben rahmen wie grüngelbe Locken Özatalays strahlendes schmales Gesicht mit ihren verschmitzten Augen. Im Hintergrund ist das Aquarell einer üppigen Frauengestalt mit einem Katzengesicht zu sehen. Deren Haare bestehen aus verwobenen Phantasiegewächsen, einer Baumkrone mit Früchten, Blüten und Schlingpflanzen. Die Fröhlichkeit dieser Bilder unterscheidet sich ­zutiefst von den jüngsten Zeichnungen Özatalays, die einen bärtigen, gebrechlichen Mann mit Brille zeigen, der in einem Rollstuhl vor Gericht sitzt.

Özatalay ist eine von einem knappen Dutzend türkischer Cartoonisten, die Prozesse gegen politische Gefangene begleiten. Die abgemagerte, geisterhafte Gestalt in ihren Zeichnungen ist Semih Özakça, ein Grundschullehrer, der zu den Zehntausenden Staatsangestellten gehört, die nach dem vereitelten Putschversuch vom 15. Juli 2016 aufgrund eines ­Dekrets des Präsidenten ihre Arbeit verloren haben. Die Zeichnerin sitzt in einem Café im Istanbuler Szeneviertel Cihangir und koloriert konzentriert eine Zeichnung aus dem Gerichtssaal. Die Ästhetik dieser Bilder ähnelt der farbenfrohen Welt ihrer Cartoons überhaupt nicht. Blass, grau und schattenhaft beherrscht die bleierne Atmosphäre des Strafvollzugs die Bilder. Der Angeklagte Özakça ist der markante Mittelpunkt ­jeder Zeichnung. Die wachhabenden Soldaten, die Richter und Staatsanwälte im Gerichtssaal sind am Rand nur grob umrissen, sie wirken wie Marionetten.

 

Seit den Gezi-Protesten verbindet die Opposition künstlerischen Ausdruck und politischen Aktivismus. Wegen der totalen Kontrolle der Medien und des seit dem Putschversuch herrschenden Ausnahmezustands in der Türkei ist das Internet der Ort des Informationsaustauschs.

Die Bilder reflektieren die kafkaeske Realität von politischen Prozessen in der Türkei. »Besonders absurd ist, dass Semih Özakça, nur weil er nach seiner Entlassung aus dem Schuldienst demonstriert hat, jetzt als Mitglied einer Terrororganisation angeklagt wird«, sagt Özatalay ernst. Der Lehrer war in Mardin nahe der syrischen Grenze an einer Schule tätig. Nach dem vereitelten Militärputsch wurde er ohne irgendeinen Beweis wegen des Verdachts suspendiert, einer terroristischen Vereinigung nahezu­stehen – ein Vorwurf, den Özakça vehement bestreitet. Zusammen mit der aufgrund angeblicher Verbindungen zur Fethullah-Gülen-Bewegung aus dem Hochschuldienst ausgeschlossenen Akademikerin Nuriye Gülmen begann Özakça im November 2016 einen Sitzstreik in der Hauptstadt Ankara. Die Hauptforderung der beiden ist weiterhin die Wiedereinstellung und die Fortführung ihrer Lehrtätigkeit. Der Sitzstreik wurde bald zu einem Hungerstreik erweitert. Je mehr Gülmen und Özakça physisch an Gewicht verloren, desto stärker wurde das öffentliche Interesse an den unbeugsamen entlassenen Lehrkräften. Am 9. März 2017, dem 75. Tag des Hungerstreiks, wurden die beiden schließlich wegen Provokation und Propaganda verhaftet.

»In diesem Prozess ist es vor allem wichtig, die Auswirkungen des Hungerstreiks zu dokumentieren«, unterstreicht Özatalay, »denn durch die Festnahme sollte den beiden die öffentliche Aufmerksamkeit entzogen werden.« Ton- und Bildaufnahmen sind in türkischen Gerichtssälen verboten, Stift und Schreibblock nicht. An jedem Prozesstag wartet die Solidargemeinschaft der Angeklagten in den sozialen Medien auf die Zeichnungen Özatalays und ihrer Kollegen. Sie sind stets knapp kommentiert: »Semih verteidigt sich« – »Hungerstreik wird fortgeführt« – »Haftentlassung verweigert«. Diese Infomartionen stehen als gekritzelte Kommentare am Rande der Zeichnungen. Oft zeichnen die Cartoonisten sich auch gegenseitig als Teil des Geschehens im Gerichtssaal. Es geht nicht nur darum, den Prozess zu ­dokumentieren, sondern vor allem auch darum, die Angeklagten teilnehmend zu begleiten. »Unsere Gruppe entstand aus der Solidaritätsbewegung ›Freiheit für Musa Kart‹«, sagt Özatalay. Kart, ein prominenter ­Cartoonist der Tageszeitung Cumhuriyet, wurde im vergangenen Juli nach neun Monaten Haft entlassen. Er ist aber immer noch, wie andere Mitarbeiter des Blattes, mit der Anklage konfrontiert, Mitglied einer terroristischen Vereinigung zu sein. »Wir haben gemerkt, dass unsere ­Arbeit viel Aufmerksamkeit bekommt, und haben sie deshalb auch nach Karts Entlassung fortgesetzt«, so Özatalay.

Seit den Gezi-Protesten verbindet die Opposition künstlerischen Ausdruck und politischen Aktivismus. Wegen der totalen Kontrolle der Medien und des seit dem Putschversuch herrschenden Ausnahmezustands in der Türkei ist das Internet der Ort des Informationsaustauschs. Der Willkür bei der Strafverfolgung sind keine Grenzen mehr gesetzt. Die Ikonographie der Regierungspolitik dominiert den öffentlichen Raum, besonders der Präsident nutzt den Putschversuch geschickt für seinen Führerkult. Die sogenannte Volkskultur wird immer wieder zur Legitimation von Gesetzesänderungen bemüht. Die Todesstrafe etwa, die die AKP vor über zehn Jahren selbst abgeschafft hat, gehört Erdoğan zu­folge nun zur Volkskultur und wird nach Kräften enttabuisiert. Das Kulturministerium unterstützt Filmproduktionen, in denen Helden aus der osmanischen Geschichte im Mittelpunkt stehen. In dieser Geschichts­verklärung werden subtil Elemente wie die Hinrichtung der ungläubigen Feinde und die Abkanzelung aus­ländischer Gesandter am osmanischen Hof in Szene gesetzt. Die starke Präsenz dieser Themen soll die Bevölkerung auf die repressive Innen- und aggressive Außenpolitik der Türkei einschwören.

Mit dieser Indienstnahme der Kultur für die Zwecke des Regimes steigt die Gefahr, dass auch die Kunstszene vermehrt in den Fokus der Strafverfolgung gerät. Ein Schock war die Festnahme des Geschäftsmanns Osman Kavala am 18. Oktober. Der 59jährige wurde nach dem Rückflug aus der ostanatolischen Stadt Gaziantep am Flughafen in Istanbul von Polizisten abgeführt. Kavala fördert die unabhängige Kulturszene in Istanbul, aber auch im südostanatolischen Diyarbakır und anderswo in  der Türkei.

Seine Firma Anadolu Kültür stärkt die Zivilgesellschaft und unterstützt etwa Projekte von Frauen und Minderheiten sowie viele internationale Kooperationen. Kavala sitzt ­zudem in verschiedenen Gremien, etwa auch im Vorstand der türkischen Niederlassung der Stiftung »Open Society« des amerikanischen Milliardärs George Soros. Die regierungs­nahen Medien überboten sich nach seiner Festnahme darin, Verschwörungstheorien darüber in die Welt zu setzen, wie der Unternehmer als ­Soros-Agent den Putschversuch im vergangenen Jahr gefördert habe, den der amerikanische Geheimdienst und die proisraelische Lobby zusammen mit dem Erzfeind Fethullah ­Gülen angezettelt haben sollen. Die Tageszeitung Yeni Şafak titelte: »Die Schlüsselperson des Terrorfonds«.
Die verstörende Diffamierungskampagne gegen eine der zentralen Figuren der unabhängigen Kultur­szene verheißt nichts Gutes.

Am 20. Oktober wurde der Hungerstreikende Semih Özakça zwar aus der Untersuchungshaft entlassen, sein Gerichtsverfahren läuft jedoch weiter. Auch Zeynep Özatalay könnte es treffen. Auf die Frage, ob ihre Arbeit zu einer Anklage wegen Propaganda für Terroristen führen könne, er­widert die Zeichnerin: »In diesem Land ist alles denkbar. Doch wenn Unschuldige sich zu Tode hungern, um ein Zeichen zu setzen, nehme ich dieses Risiko in Kauf.«