Die Leaks aus dem Unternehmerparadies – Gewinne machen, ohne sie zu versteuern

Bezahlt wird nicht

Obwohl deutsche Unternehmen von diversen Bundesregierungen erheblich entlastet wurden, nutzen viele die Möglichkeiten der Steuervermeidung, die in den »Paradise Papers« enthüllt wurden.

Man kann sich Tim Cook vermutlich als zufriedenen Menschen vorstellen. Unter seiner Führung erzielt Apple ein Rekordergebnis nach dem anderen, jedes neue Produkt verkauft sich fast von selbst. Allein im vergangenen Quartal verdiente das Unternehmen über zehn Milliarden Dollar, in den kommenden Monaten sollen sich die Profite sogar noch deutlich steigern. Besitzer von Apple-Aktien reagieren auf die Zahlen euphorisch, auf ­andere wirken sie hingegen provozierend.

In einem offenen Brief erinnerten die Chefredakteure der Süddeutschen Zeitung (SZ) vergangene Woche an die »moralische Verantwortung«, die Cook gerne öffentlich bekundet. Wenn es ­jedoch um Steuern gehe, bleibe von solchen Aussagen nichts mehr übrig. In Deutschland habe Apple Schätzungen zufolge im vergangenen Jahr einen Milliardenumsatz erzielt – und gerade einmal 25 Millionen Euro Steuern auf den Gewinn abgeführt. Zudem moniert die SZ eine Anfrage von Apple beim Offshore-Rechtsdienstleister Appleby. Demnach wollte der US-Konzern von Appleby eine Zusicherung, dass er auf der britischen Steueroase Jersey keine Steuern zahlen müsse, wenn seine Tochterfirmen ihren Geschäftssitz auf die Kanalinsel verlagerten.

Steuervermeidung ist allerdings keine Spezialität von Apple, wie den in der vergangenen Woche veröffentlichten »Paradise Papers« zu entnehmen ist. Über 13 Millionen Dokumente aus 21 Quellen zu Steuerparadiesen wurden SZ-Journalisten zugespielt, die sie gemeinsam mit dem Netzwerk investigativer Journalisten (ICIJ), in dem 382 Reporter aus 67 Ländern kooperieren, ausgewertet haben.

Alle Unternehmen zusammen zahlten in Deutschland nur etwas mehr als zehn Prozent der staatlichen Steuereinnahmen von 650 Milliarden Euro.

In den Papieren werden mehr als 120 Politiker aus fast 50 Ländern genannt, dazu Unternehmer und Sportler. Zu den prominentesten Fällen ­gehören neben US-Handelsminister Wilbur Ross, der britischen Königin Elizabeth II. und einem engen Berater des kanadischen Ministerpräsidenten Justin Trudeau auch Konzerne wie Nike, Amazon, Facebook und eben Apple.
In Deutschland gibt es der SZ zufolge Hinweise auf etwa 1 000 Kunden, Begünstigte oder anderweitig Involvierte. Zu den deutschen Offshore-Nutzern gehören demnach Milliardäre, Adlige, Unternehmer und ehemalige Politiker. Große Firmen wie Sixt, die Deutsche Post, Siemens, Bayer und die Deutsche Bank sind ebenfalls vertreten. Weil sie Gewinne in die Steueroasen transferieren, entgehen nach Berechnungen des französischen Wirtschaftswissenschaftlers Gabriel Zucman dem deutschen Staat jährlich 17 Milliarden Euro Unternehmenssteuern. Eine Summe, die in etwa den gesamten Bildungs- und Forschungsausgaben der Bundesregierung entspricht.

Die Enthüllungen durch die Paradise Papers haben große moralische Empörung ausgelöst. Dabei sind, bizarr genug, in der Regel nicht die aufgedeckten Praktiken, sondern im Grunde genommen nur die Methoden ihrer Enthüllung illegal. Die meisten Nutzer der Offshore-Konten verstoßen nicht gegen die jeweiligen Landesgesetze, die sie so weit wie möglich für sich ausnutzen. Auch wenn Konzerne wie Apple gerne behaupten, dass sie aus der Welt a better place machen wollen, sind sie nicht dem Allgemeinwohl, sondern vor allem ihren Shareholdern verpflichtet. Diese sind daran interessiert, dass die Unternehmen so wenige Abgaben wie möglich entrichten, da sonst die Dividendenzahlungen belastet würden.

Andererseits müssen Staaten erst die Rahmenbedingungen schaffen, damit Unternehmen möglichst reibungslos funktionieren können. In einen failed state möchte schließlich auch Apple nicht investieren. Fraglich ist also, warum die Staaten ihre eigenen Interessen nicht konsequenter durchsetzen. Bemerkenswert ist mithin, dass nicht nur die Steuerflucht enorme Ausmaße ­angenommen hat. Vielmehr geht insgesamt der Anteil der Unternehmenssteuer an den staatlichen Einnahmen kontinuierlich zurück.

Weltweit reduzierte sich der durchschnittliche Unternehmenssteuersatz nach Angaben des Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsunternehmens KPMG zwischen 1999 und 2016 von 32,7 auf 23,6 Prozent. Dabei sank der durchschnittliche Unternehmenssteuersatz in der Europäischen Union um 35,3 Prozent – stärker als in den anderen Regionen. In Deutschland reduzierte sich der Steuersatz von 1999 bis 2011 sogar fast um die Hälfte und damit noch stärker als im EU-Durchschnitt.

Insgesamt betrug der Anteil der Körperschaftssteuern an den Steuereinnahmen des Bundes im vergangenen Jahr 27,4 Milliarden Euro. Hinzu kommen 50 Milliarden Euro an Gewerbesteuer. Alle Unternehmen zusammen zahlten grob gerechnet in Deutschland somit nur etwas mehr als zehn Prozent der staatlichen Steuereinnahmen von 650 Milliarden Euro. Den Rest ­bezahlen die Bürger, deren Belastung deutlich zugenommen hat. So wurde etwa die Mehrwertsteuer von 13 Prozent im Jahr 1983 auf mittlerweile 19 Prozent erhöht.

Begonnen hat diese Entwicklung mit der marktfundamentalistischen Ideo­logie, die in den achtziger Jahren unter der britischen Premierministerin Margret Thatcher und dem US-Präsidenten Ronald Reagan durchgesetzt wurde. Demnach galt es als der wichtigste Unternehmenszweck, Arbeitsplätze zu schaffen. Je mehr Jobs es gibt, desto höher sind die staatlichen Einnahmen aus Lohn-, Umsatz- und Einkommenssteuer. Deswegen sollten der Ideologie zufolge alle Staaten der Welt möglichst lukrative Bedingungen schaffen, damit sich Unternehmen ansiedeln. Staatliche Abgaben sollten auf ein Minimum reduziert werden. So sollten nicht nur massenhaft neue Jobs geschaffen werden, sondern auch effiziente Verwaltungen entstehen. In diesem Sinne ist es nur konsequent, wenn Unternehmen versuchen, ihre Gewinne auf Steueroasen zu transferieren. Langfristig würden die staatlichen Verluste durch Steuerkürzungen sogar mehr als kompensiert, weil weniger Menschen Sozialleistungen in Anspruch nehmen und die Einnahmen aus der Einkommenssteuer steigen würden.

Der segensreiche Effekt von »Reaganomics« und Thatcherismus blieb zwar aus, doch die Doktrin bleibt einflussreich. Unter Berufung auf diese »Voodoo-Ökonomie« verteidigt US-Präsident Donald Trump derzeit seine Pläne für eine umfassende Steuerreform, die für Unternehmen und Wohlhabende in den USA tatsächlich ein Paradies ­erschaffen könnte. Die Reform soll ihnen Steuerersparnisse in Höhe von bis zu 2,5 Billionen Dollar im Laufe der nächsten zehn Jahre erbringen. Irgendwelche Oasen sind dann wohl kaum mehr nötig.

Dieser Doktrin der Deregulierung folgten auch in Deutschland seit den achtziger Jahren die jeweiligen Bundesregierungen, ob mit konservativer, sozialdemokratischer oder grüner ­Beteiligung. Wenig verwunderlich, dass der ansonsten wegen seiner kompromisslosen Art so gefürchtete ehemalige deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) sich ausgerechnet beim Thema Steuerflucht oft zimperlich verhielt. Auch liberale Zeitungen wie die SZ unterstützten in den vergangenen Jahren diese wirtschaftsliberale Politik.

Doch Unternehmen versuchen nicht nur, sich den Abgaben zu entziehen. Sie investieren ihre Gewinne dort, wo sie sich maximale Profite erhoffen. Am Ende entstand daraus nicht die beste aller Welten, sondern die globale Finanzkrise. Viele Liberale, die sich ­zuvor für die Deregulierung aussprachen, monieren nun die Konsequenzen, kritisieren »parasitäre Banken« oder »egoistische Eliten«, die auf das Gemeinwohl pfeifen.

Der moralischen Empörung über die »Paradise Papers« zum Trotz ist keine große Änderung zu erwarten, vor ­allem nicht von einer möglichen »Jamaika-Koalition«. Wolfgang Kubicki, FDP-Vizevorsitzender und aussichtsreicher Kandidat für das Finanzministerium, hat schon angedeutet, wie er gegen europäische Steueroasen vorgehen will. Wer »irgendwo auf der Welt Er­träge steuerfrei kassiert«, sagte er in der aktuellen Ausgabe des Spiegel, dem »verweigern wir den Abzug als Betriebsausgabe«. An Tim Cooks Zufriedenheit wird das wohl wenig ändern.