In Moskau wurde das 100jährige Jubiläum der Oktoberrevolution gefeiert

Stalin, Lenin, Glückseligkeit

Bei der Demonstration zum 100. Jahrestag der Oktoberrevolution in Moskau feierten Russen und Ausländer euphorisch unter einem Fahnenmeer.

Freudestrahlende Gesichter überall. Zu schön, um wahr zu sein, da die Moskauerinnen und Moskauer doch gewöhnlich mit aufgesetzter Gleichgültigkeit glänzen. Mit derart überschwäng­licher, fast schon kindlicher Euphorie wie dieser 7. November wird kein anderer Feiertag auf Moskaus Straßen begangen. Es ist das 100jährige Jubiläum der Oktoberrevolution und die Kommunistische Partei (KPRF) hat ihre Anhängerschaft am Nachmittag zur Demonstration geladen.

Vom Puschkin-Platz zum Karl-Marx-Denkmal soll es gehen, im Beisein von über den Massen schwebenden Lenin- und Stalin-Porträts. Wladimir Iljitsch scheint indes keineswegs in Feierstimmung zu sein. Seinem Gegenüber schaut er direkt in die Augen, wobei er Strenge und Altersmüdigkeit ausstrahlt. Ein geschönter und geföhnter Stalin in weißer, mit Orden geschmückter Montur weicht dem Blickkontakt aus.

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Bei diesen jungen Menschen herrscht weniger Begeisterung. Moskaus Polizei

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Ute Weinmann

Dass Moskau nach Jahren der Selbstisolation noch einmal so viel Völkerfreundschaft erleben darf, lässt niemanden kalt.

Fünf Minuten vor Abmarsch drängeln sich junge Demonstrierende mit großen roten Buchstaben in der Hand an die Spitze des Zuges. Sie bilden das Wort »Komsomol«, das Kürzel der Jugendorganisation der Kommunistischen Partei. Die Jugend soll offenbar für eine Zukunft stehen, auf die die KPRF angesichts ihrer im Rentenalter angekommenen Anhängerschaft nicht wirklich hoffen kann. Aber die Demonstration ist schließlich dem verflossenen Jahrhundert gewidmet, nicht dem bevorstehenden. Und man sollte nicht unterschätzen, wozu russische Rentnerinnen und Rentner fähig sind. Heute ist ihr Freudentag. »Zeigen Sie das alles ruhig im Fernsehen«, sagt eine ältere Teilnehmerin forsch. Auf die Entgegnung, dass mich wohl niemand in Russland in einem Fernsehsender arbeiten lassen würde, erwidert sie: »Stimmt, das sind doch eh alles Faschisten!« Sie ereifert sich regelrecht, aber für Diskussionen bleibt keine Zeit. Die vorderste Reihe setzt sich in Bewegung. Jetzt gilt es, Schritt zu halten mit dem vorgegebenen flotten Tempo.

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Haben auch unter den Jüngeren noch ihre Fans. Lenin, Stalin und als Marinewache verkleidete junge Menschen

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Ute Weinmann

»Dank an die Sowjetmacht für ein glückliches Leben« steht auf einem Plakat am Rande der Demonstration, auf einem anderen Transparent prangern KPRF-Anhänger die Armut an. Vom wogenden Fahnenmeer mit Sternen, Hammern und Sicheln sowie nicht eindeutig zu entschlüsselnder Revolutionssymbolik wird einer ganz schummrig. Anhänger von Muammar al-Gaddafi heben sich in leuchtendem Grün von ihrer Umgebung ab. »Das Leben ist kurz, die Jamahiriya ewig.« Damit ist die vom ehemaligen libyschen Diktator propagierte »Herrschaft der Massen« gemeint. Es geht wohl doch um die Zukunft – also rasch die Flucht nach vorne antreten.

Inmitten unzähliger identischer Fahnen der Revolutionären Arbeiterpartei (RRP) des Politveterans Sergej Biez verliert man leicht die Orientierung. So viele Mitglieder wie Fahnenträger kann die RRP beim besten Willen nicht haben. Direkt hinter dem in Rot-Weiß gehaltenen Transparent der Partei mit dem Slogan »Für einen neuen Oktober« läuft ein Punkmusiker. Wowans exzentrische Auftritte mit seiner Band »Punk-Fraktion der Roten Brigaden« sind legendär. Am heutigen Tag begnügt sich der ausgebildete Flugzeuginge­nieur mit einer Statistenrolle neben bestens gelaunten RRP-Anhängern. Sein Gesicht strahlt.

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Nein, das ist nicht der Bergdoktor. Stalin und für Zuhause

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Ute Weinmann

Weiter geht es um die Ecke auf die Twerskaja Uliza auf den Kreml zu. Genehmigt ist nur ein Spaziergang auf dem Bürgersteig, die Fahrbahn ist tabu. Sogar heute. Vielleicht ist es besser so. Die knapp über 2 000 Teilnehmenden könnten sich auf der breiten Straße verlieren. Nicht weniger als ein Drittel davon ist mit der Route nicht vertraut. Sie sind extra für das Großereignis aus dem Ausland angereist. ­Jemand stimmt die Internationale an und rund­herum singen alle in ihrer Muttersprache. Den Text scheinen alle zu kennen, ob auf Russisch, Deutsch, Spanisch oder Japanisch. Dass Moskau nach Jahren der Selbstisolation noch einmal so viel Völkerfreundschaft erleben darf, lässt niemanden kalt. Bei manchen leidgeprüften Sängern und Sängerinnen löst dies einen regelrechten Freudentaumel aus. Eine Frau stolpert, wird aber von ihrer weiblichen Begleitung sanft aufgefangen: »S prasdnikom!« (Zum Feiertag!) Die Umstehenden gratulieren sich zum großen Fest. Das ist so mit­reißend, dass man sich schließlich ebenfalls Glückwünsche an einige Männer und Frauen entlocken lässt, die lächeln und fotografiert werden wollen.

Ein stattlicher, in einen Poncho gewickelter Mann trägt ein tiefrotes Tuch mit der Aufschrift »Partido Comunista Paraguayo«, Kommunistische Partei Paraguays. Mit seinem Smartphone fotografiert er die Duma, eine nicht gerade kommunistische Institution. Durch sein ehrfurchtsvolles Aufblicken weckt er Erinnerungen an frühere ausländische Delegationen, die gekommen waren, um die Errungenschaften der Sowjetunion zu bewundern. Das benachbarte schmucke Gewerkschaftshaus scheint ihn weniger zu interessieren. Vielleicht deshalb, weil es nicht zum Jubiläumsprogramm der KPRF ­gehört. In den dreißiger Jahren fanden in dem geschichtsträchtigen Gebäude die großen Schauprozesse statt. Stalin flaniert indes von einem Demonstranten auf einer Stange getragen vorbei, den Blick demonstrativ in die andere Richtung gewandt, als sei nichts ge­wesen. Lenin ist einige Schritte zurückgeblieben und hat ein strenges Auge auf seinen Nachfolger geworfen. Dann holt er ihn wieder ein.

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Der Sozialismus kennt keine Grenzen. Anhänger Gaddafis demonstrieren mit

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Ute Weinmann

Auch Dascha Mitina demonstriert mit und stört sich an den alles überragenden Konterfeis der durch die Re­volution ins Amt gehievten sozialistischen Staatsmänner nicht weiter. Vor 20 Jahren war sie über die Liste der KPRF als jüngste Abgeordnete in die Duma gewählt worden, obwohl sie der Partei nie angehört hatte. Das bunte Flair heute sorgt auch bei ihr für gute Laune. Als bestens informierte ehe­malige Moskauer Pressesprecherin des Außenministeriums der »Donezker Volksrepublik« und Sekretärin für internationale Angelegenheiten der Vereinigten Kommunistischen Partei weiß sie auch, warum Delegierte aus über 80 Ländern zum Jubiläum nach St. Petersburg und Moskau gekommen sind: Zwar hätten sie ihre Tickets selbst bezahlt, Unterbringung und Verpflegung gingen aber auf Staatskosten. Dafür habe die KPRF gesorgt. »Schließlich kann die Regierung froh sein, dass ihr jemand die Mühe abnimmt, sich um die Revolutionsfeierlichkeiten zu kümmern«, sagt sie.

Kurz vor dem Ziel gegenüber dem Bolschoj-Theater ist die Stimmung immer noch ausgelassen. Eine Interna­tionalistin über 60 frohlockt angesichts einer Gruppe Brasilianer und Kubaner: »Hoch die internationale Solidarität!« Wer auf die Abschlusskundgebung will, muss sich wie zu Beginn der Demons­tration durch Metallrahmen zwängen und Taschenkontrollen über sich er­gehen lassen. Selbst beim freudigsten Anlass wittert die Polizei Terrorgefahr. Viele bleiben hinter der Absperrung zurück.

»Sie sind aus Italien angereist, stimmt’s?« Die Fragestellerin sitzt im Rollstuhl, bewaffnet mit zwei roten Fahnen. Auch sie hat Lenin und Stalin im Gepäck. »Nein, ich bin aus Moskau.« Ihr Interesse ist im Nu verflogen und zu allem Übel setzt die Beschallung durch Bühnenlautsprecher ein. Frische Kader der Jugendorganisation Komsomol werden begrüßt, dann übernimmt der KPRF-Vorsitzende Gennadij Sjuganow das Mikrophon. Zeit aufzubrechen, vorbei an verzweifelten Frauen, die hier stehen, um auf ihre Misere hinzuweisen. In Neubauwohnungen haben sie investiert und sind am Ende leer ausgegangen. Eine viel zu profane Geschichte für den Revolutionsfeiertag.