Simon Strauß’ Roman »Sieben Nächte« ist ein biederes Weltschmerztagebuch

Keusche Todsünden

Simon Strauß’ autobiographischer Debütroman »Sieben Nächte« begeistert das deutsche Feuilleton. Die Gründe für diese Euphorie machen unseren Autor stutzig.

Das Feuilleton der Zeit stilisiert Simon Strauß zu einem Autor, der »erstmals einen sichtbaren Identitätsnachweis seiner Generation erbringt«. Wolfram Weimer berichtet in The ­European ganz aufgeregt davon, dass Strauß in seinem Debütroman »Sieben Nächte« eine Antwort darauf gefunden habe, was »nach all den ­ironischen Brechungen und Relativierungen der Postmoderne kommen soll«. Wer das Büchlein selbst gelesen hat, dem sticht zwar dessen vollkommene Humorlosigkeit ins Auge, aber die Antwort auf die postmoderne Krisenstimmung offenbart sich dem Leser nicht eben deutlich.

Das Buch ist zunächst einmal ein seltsam aus der Zeit gefallener Selbstversuch, der das Laborieren an der Abwesenheit von Leid thematisiert. Den Protagonisten, einen jungen Mann kurz vor Ende des ersten Lebensdrittels, beschleicht die Angst, er könnte wegen seines schnur­geraden Lebenslaufs und seiner gefälligen Art etwas im Leben verpasst haben und »ohne Initiation, ohne Reife­prüfung« einfach ins vierte Lebensjahrzehnt rutschen. Seine strebsame Art (»schon in der Schule stand ich vor Stundenbeginn an der Tür, um mir vom heraneilenden Lehrer mit einem kurzen Nicken be­stätigen zu lassen, dass ich wieder die Bestnote bekommen würde«) und seine wohlsituierte, bildungsbürgerliche Herkunft (»Ich, der ich von Anfang an dicht bei der warmen Heizung gesessen habe, immer schon satt gefüttert, mit allen Chancen ­versehen«) haben verhindert, dass er sich jemals wirklich existentiellen Fragen stellen und Wege beschreiten musste, die »nach unten führen«.

»Gefangen in einer Blase aus Glück« stellt der Held ganz selbstkritisch fest, und: »Ein zerrissener Jacken­ärmel und ein Knutschfleck am Hals machen noch keinen Helden.« Da er sich aber »bald, sehr bald … auf ein Leben, eine Arbeit, eine Frau« wird festlegen müssen und große Angst davor hat, dass ihm bei all der Ordnung und den Verpflichtungen das »Gefühl« auf der Strecke bleiben könnte, entschließt er sich zum Pakt mit einem Bekannten. Sie kommen überein, dass der Protagonist an sieben aufeinander folgenden Tagen die sieben Todsünden begehen und seine Erfahrungen gleich in der folgenden Nacht zu Papier bringen soll.

Die Todsünden – Hochmut, Völlerei, Faulheit, Habgier, Neid, Wollust und Jähzorn – begeht er auf eine verblüffend keusche Weise. Die Wollust beispielsweise wird bei einer »Sexparty« erfahren, die derartig brav gezeichnet ist, dass eine durchschnittliche Clubnacht dagegen anmutet wie eine Orgie am Hofe Neros. Ähnlich gestaltet es sich mit der Völlerei: Der Protagonist verspeist ein Steak und lamentiert, dass Veganer einem irgendwie alles verböten. Ähnlich geht es weiter. Wenig Sünde und viel wortgewaltige Nabelschau.

Naiv ist es, anzunehmen, die dunkle Seite der Romantik sei im 19. Jahrhundert zurückgeblieben, während ihre verträumte bessere Hälfte ganz freundlich und zahnlos bei Kaffee und Kuchen nach Omas schlesischem Rezept am Tisch säße.

 

Antimoderne und reaktionäre Sehnsüchte

Warum also glaubt beispielsweise Weimer, dieses Stück Prosa habe »das Zeug zu einem neoromantischen Aufbruch«? Warum so viel Tamtam um dieses biedere Weltschmerztagebuch?

Tatsächlich sagt die hymnische Rezeption im Feuilleton wenig über das Werk selbst aus, sondern legt die antimodernen und reaktionären Sehnsüchte seiner Rezensenten frei. »Wie viel Kraft wir verloren haben für Empfindung, Anteilnahme und Begeisterung. Viel hat auch damit zu tun, dass wir überheblich meinen, die reine Berechnung könne alles ­bewirken.« Strauß’ in hölzernem Pathos vorgetragene, romantische ­Kulturkritik trifft hingegen einen Ton, der unter jungen Menschen, die nach den Irritationen postkolonialer Kritik und Genderdebatten wieder den festen Boden deutscher Heimat unter ihren Füßen spüren wollen, Gehör finden dürfte.

»Ich will wieder den Wunsch nach Wirklichkeit spüren, nicht nur den nach Verwirklichung. Ich will Mut zum Zusammenhang, zur ganzen Erzählung. Die Sprengköpfe der Dekonstruktion haben wir lange genug bewundert, jetzt ist wieder Zeit für ein paar große Architekten. Für Neubauten ohne Einsturzgefahr.« Bei solchen Sätzen wird auch die Neue Rechte die Ohren spitzen, und damit ist man bei den Risiken und Nebenwirkungen der hier beschworenen Neoromantik. Wer oder was sind ­diese »Sprengköpfe der Dekonstruktion«? Wer sind die neuen Architekten, welche Gebäude sollen sie errichten und wer soll sie bewohnen? Und müssen nicht erst einmal die Spreng­köpfe beseitigt werden, bevor es ans Neubauen geht? Strauß wirft Fragen auf und überlässt es den Lesern, Antworten zu finden.

»Die Mode ist längst der geistige Unterbau von Büchern wie diesem«, schreibt Weimer und behauptet, dass sich in unserer Landlustgesellschaft die Leute als Ausdruck romantischer Sehnsucht »knarrende« Dielen in ihre Wohnungen legen würden, mit abgewetzten Ledertaschen umher­liefen und einen Oldtimer in der Garage hätten. Selbstverständlich wäre es verkürzt, zu behaupten, Wehrmachtsdevotionalien seien die Oldtimer des kleinen Mannes. Naiv ist es jedoch, anzunehmen, die dunkle Seite der Romantik sei im 19. Jahrhundert zurückgeblieben, während ihre verträumte bessere Hälfte ganz freundlich und zahnlos bei Kaffee und Kuchen nach Omas schlesischem ­Rezept am Tisch säße.

Die Romantik verstand sich als Schutzraum vor dem kalten, allen Zauber eliminierenden Rationalismus der Aufklärung. Sie war ein Rückzugsort vor der neuzeitlichen Wissenschaft, die keinen Sinn mehr zu suchen schien, Denken und Mathematik in eins gesetzt hatte und diese so zur absoluten Instanz erhob, wie Adorno es in der Dialektik der Aufklärung formulierte. Strauß schreibt: »In den staubigen Archiven der Vernunft ­haben wir zu oft vergeblich nach Antworten gesucht auf Fragen, die nur auf offenem Deck, unter freiem Himmel gelöst werden können. Dass es auch ein Versteck gibt, in dem ein Geheimnis wohnt, über das man staunen kann und sich nicht den Kopf zerbrechen muss, das kann nur bestreiten, wer rein als Logiker denkt.« Worauf zielt seine Kritik? Wo findet die Flucht ins Private und die Hinwendung zur Vergangenheit, einem verklärten Mittelalter, ihr neoromantisches Äquivalent? In Biofetisch, Wanderlust, craft beer mit Reichsadler-Motiv und einem gesunden Antiamerikanismus?

Ein idealisierter Vergangenheitsbezug manifestiert sich derzeit nicht zuletzt in aus Großmutters Bett­tüchern geschneiderten Kleidern, die in Kreuzberger Boutiquen zu Höchstpreisen gehandelt werden. Was der gewissenhaft schneidernden deutschen Akademikerinnenhand an ­Geschick fehlt, ergänzt ihr treues Herz mit Liebe. Wenn man nicht stolz auf Herkunft und Taten der Großeltern sein kann, dann doch zumindest auf die Reinheit ihrer Bettwäsche. In Berlin-Kreuzberg, wo in den Altbauwohnungen knarrende Dielen liegen und die Ledertaschen abgewetzt sind, reden die Torstens und Mareikes von der Gleichheit aller Menschen und von »Refugees Welcome«, aber der unbehagliche Gedanke, dass ihr kleiner Caspar mit seinen Waldorfpuppen anders ist als der kleine Osama mit Plastikkalaschnikow und Spiderman-Anzug, klopft immer lauter an. Torsten und Mareike werden früher oder später einmal bedenken, was ihre Eltern im Schwarzwald ohnehin glauben und was Götz Kubitschek offen ausspricht: »Die gehören nicht zu uns!« Strauß’ Hadern mit dem postmodernen Zeitgeist, den er mit einem »Zynismus, der seine kalten Finger um alles legt« identifiziert, und seine Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit sind, ob gewollt oder nicht, anschlussfähig an rechte Denkmuster.

 

Der Volksgeist spukt in der jungen, deutschen Mittelschicht

Aber wo sollen die neuen deutschen Romantiker ihr goldenes Mittelalter finden? Wo ihre Geschichte beginnen lassen, wenn vor 1945, der vermeint­lichen Stunde Null, der schwarze Abgrund des Nationalsozialismus liegt, der alle Traditionslinien vor ihm verschlungen hat? Vielleicht in der geschichtslosen Nachkriegszeit, in der Simon Strauß sein Buch spielen lässt? Einer Zeit der Tabula Rasa? Einer Zeit, die Raum für Neues bot und nicht darüber sprach, was vorher war?

Worauf sollen die heterosexuellen, weißen Deutschen ihre Identität ­begründen, wenn ihnen der Postkolonialismus nach der doofen Nazizeit auch noch das Kaiserreich madig macht? Wenn das protestantische Idol Luther zum antisemitischen Hassprediger geschrumpft ist? Die »gute alte Zeit« gibt es nicht. Bei Oma und Opa war nur die Bettwäsche weiß und nostalgische Konsumkritik hatte schon mehr als einmal Konjunktur. Romantik ist in ihrer Essenz antiemanzipatorisch, antimodern und passt weder zur Migrationsgesellschaft noch zum vereinigten Europa. Der Hype um »Sieben Tage« deutet an, dass in der jungen, deutschen Mittelschicht und im Feuilleton wieder einmal der Volksgeist spukt. Nicht nur beim Antaios-Verlag und nicht nur als Accessoire für Hipster, nicht als ironisches Zitat, sondern als bierernste Selbstverortung der jungen Mittelschicht. Das Simon Strauß‘ Debüt einen solchen Wirbel auslöst, bestätigt diese Vermutung. Strauß hat kein rechtes Buch geschrieben, aber die Fragen, die er aufwirft, werden gerne von rechts beantwortet.

 

Simon Strauß: Sieben Nächte. Blumenbar, Berlin 2017, 144 Seiten, 16 Euro