Letzter Seitenwechsel
Die letzte Volte war eine zu viel. Sie endete für Ali Abdullah Saleh mit einem Kopfschuss. Es sollte wieder einmal ein großer, verblüffender Handstreich werden, ein Seitenwechsel, der das ganze Spielbrett durcheinander wirft. Doch Saleh hatte sich grundlegend verkalkuliert. Er war fast 34 Jahre lang Präsident zunächst des Nordjemen, dann des geeinten Jemen gewesen, dann folgten sechs Jahre in seiner zweiten Karriere als Warlord. Als jubelnde Houthi-Kämpfer, einige Tage zuvor noch seine Verbündeten, die Leiche Salehs mit einer gut sichtbaren Kopfwunde auf einer grellbunten Decke zu einem Pickup schleppten und das Ereignis auf einer verwackelten Handyaufnahme festhielten, war klar, dass in diesem anscheinend endlos sich hinziehenden Krieg etwas Entscheidendes passiert war. Kurz zuvor hatte Saleh seine Anhänger zum Kampf gegen die Houthis aufgerufen, mit denen er seit 2014 den Großteil des ehemaligen Nordjemen kontrolliert hatte, inklusive der Hauptstadt Sanaa.
Einheiten der Anti-Houthi-Koalition melden mittlerweile erste Erfolge bei einer Offensive auf die Hafenstadt Hodeidah. Damit würde sich das Kampfgeschehen in dichtbesiedelte Gebiete verlagern.
Zunächst sah es so aus, als würde der Coup glücken: Salehs Kämpfer, bestehend nicht zuletzt aus den Verbänden der ehemaligen, von den USA zum »Kampf gegen den Terror« ausgebildeten Präsidentengarde, schienen die Houthis in Sanaa zurückzudrängen, die Saudis flogen unterstützende Luftangriffe. Es wäre der Triumph vor allem des saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman gewesen, der die humanitär fatale und militärisch stagnierende Intervention der verbündeten Golftruppen auf Seiten der international anerkannten Regierung seit 2015 zu verantworten hat.
Diese offizielle Regierung herrscht in einem seltsamen Zwischenreich: Nachdem die Houthis 2014 gemeinsam mit Saleh Sanaa besetzt hatten, stellten sie den Übergangspräsidenten Abd-Rabbu Mansur Hadi, der einen demokratischen Wechsel einleiten sollte, unter Hausarrest, aus dem er jedoch fliehen konnte. Die daraufhin in Aden im Südjemen installierte, international anerkannte Regierung war und ist von ihren saudischen und emiratischen Verbündeten vollständig abhängig.
Salehs Coup hätte wohl so aussehen sollen: Er liefert die Hauptstadt aus, die Houthi-Kämpfer hätten sich allerorten zurückziehen müssen, vielleicht bis in ihr Ursprungsgebiet im bergigen Norden des Landes an der saudischen Grenze. Was immer die Saudis Saleh für seinen Seitenwechsel angeboten haben mögen: Nichts wäre zu teuer für solch einen Sieg gewesen. Doch dann kam dieses Desaster.
Jemen und Syrien: Wettkampf um die größte humanitäre Katastrophe der Gegenwart
Der Konflikt im Jemen ähnelt dem Krieg in Syrien. Die beiden Länder wetteifern um die größte humanitäre Katastrophe der Gegenwart und das Tableau der militärisch involvierten Länder und Gruppen ist ähnlich komplex und unübersichtlich. Die Konfrontation zwischen den Saudis und ihren Verbündeten – im Jemen spielen die Vereinigten Arabischen Emirate auch militärisch eine größere Rolle – auf der einen Seite und dem Iran auf der anderen bildet das Grundmuster. Hinzu kommen diverse innerjemenitische Fraktionierungen zwischen Jihadisten, südjemenitischen Separatisten, der international anerkannten Regierung, Warlords wie dem Vizepräsidenten Ali Mohsen, einem Konkurrenten Salehs. Überlagert wird das von einem komplizierten Stammesgeflecht, das vor allem im Norden eine bedeutende Rolle spielt. Während der Iran mit Unterstützung der Hizbollah die Houthi-Kämpfer – die als Zaiditen unter die Schia subsumiert werden – bewaffnet und ausbildet, liefern Briten und US-Amerikaner die Bomben für die saudische Luftoffensive, die immer wieder auch die Zivilbevölkerung treffen. Die USA führen im Jemen zudem noch einen fast vergessenen Drohnenkrieg gegen al-Qaida, der regelmäßig auch Zivilisten trifft – ein Vermächtnis der Regierung Barack Obamas. Die Saudis und Emiratis haben darüber hinaus Interventionstruppen zusammengekauft, darunter sudanesische Milizen, die ihre Erfahrungen bei den Massakern in Darfur gesammelt haben. Auch Eritrea ist an der Ausbildung jemenitischer Kämpfer für die Anti-Houthi-Koalition beteiligt; dabei wurde dem Land mit einer der berüchtigtsten Diktaturen weltweit lange eine Kooperation mit den iranischen Revolutionsgarden nachgesagt.
Die britische Journalistin Iona Craig, eine der profiliertesten Kennerinnen des Landes, twitterte kurz nach dem Bekanntwerden von Salehs Tod, ihre jemenitischen Freunde, selbst jene, die den ehemaligen Präsidenten gehasst hätten, seien wie unter Schock gewesen: »Alle haben gefragt: ›Was passiert als nächstes?‹ Keiner wusste eine Antwort, außer dass es nichts Gutes sein wird.« Unklar ist etwa, was nun mit Salehs Truppen passiert. Zumindest einzelne seiner Einheiten sollen bereits zur Anti-Houthi-Koalition übergelaufen sein, die Kader seiner Kongresspartei hielten wiederum bisher die Verwaltung im Norden am Laufen. Gerüchte aus Sanaa sprechen von Verhaftungswellen gegen seine Parteigänger auch aus dem Stammesmilieu, selbst von Massenhinrichtungen ist die Rede. Der jemenitische UN-Botschafter sprach sogar von 1 000 Hingerichteten.
Die Houthis scheinen darauf zu vertrauen, sich weiterhin in Sanaa behaupten zu können. Doch haben sie nach ihrem Sieg über den ehemaligen Verbündeten Saleh ein Problem – und darin liegt nun die Hoffnung ihrer Gegner: Trotz seines verheerenden Einflusses auf die Geschicke des Landes war Saleh durchaus auch eine populäre Führerfigur. Der selbst aus der Region um Sanaa stammende ehemalige Diktator hatte 2014 den Houthis die Machtübernahme in der Hauptstadt erst ermöglicht. Ursprünglich war der Aufstand der Houthis eine lokale Rebellion im Norden und die Houthis selbst waren ein Spielstein im jemenistischen Machtspiel, das Saleh so gut beherrschte. Dabei wurde seine Position als Seniorpartner der so provinziellen wie eifrig religiösen Houthis immer schwächer. Im August soll sich Saleh bereits einmal in Hausarrest befunden haben. Die wachsende Stärke der Houthis dürfte der iranischen Unterstützung zu verdanken sein. Das so markante Bekenntnis der Houthis zum schiitisch-iranischen Lager, auch ihre Anlehnung an das Erscheiungsbild der Hizbollah – als Partei nennen sie sich Ansar Allah –, ist jedoch in weiten Teilen des Nordjemen nicht populär. Es könnte sich herausstellen, dass die Houthis fortan alleine gegen alle anderen stehen, zumal wenn sie auf heftige Repression in ihrem Machtbereich setzen.
Erste Erfolge der Anti-Houthi-Koalition
Einheiten der Anti-Houthi-Koalition melden mittlerweile erste Erfolge bei einer Offensive in der Küstenebene mit Stoßrichtung auf eine der größten Städte des Landes, die Hafenstadt Hodeidah. Damit würde sich das Kampfgeschehen in dichtbesiedelte Gebiete verlagern, und das in einem Land, das mit Nahrungsmittelknappheit, Unterernährung, einer zusammenbrechenden Gesundheitsversorgung sowie einer grassierenden Choleraepidemie bereits eine humanitäre Katastrophe erlebt.
Auch ein Vorstoß in Richtung der Stadt Sanaa mit ihren zweieinhalb Millionen Einwohnern dürfte verheerende Folgen haben. In Marib, im Osten des Jemen, einem der wichtigsten Stützpunkte der saudischen Koalitionstruppen, ist mittlerweile der älteste Sohn Salehs eingetroffen, der lange Jahre als Kommandeur der Präsidentengarde fungierte. Auch Salehs Halbbruder soll bereits dort sein, der früher Befehlshaber der Luftwaffe war. Salehs ältester Sohn musste erst aus dem Hausarrest in den Emiraten entlassen werden, um zum Rache schwörenden Oberhaupt des Familienbetriebs befördert werden zu können.
Aber das sind nur Details der üblichen Freund-Feind-Folklore in der Region. Die Truppen in Marib hielten auch eine Gedenkminute für Saleh ab, gegen den sie seit Jahren gekämpft hatten, während dessen ehemalige Verbündete den Sieg über den »Verräter« feierten. Immerhin hatte Saleh während seiner Amtszeit als Präsident nicht weniger als sechs offizielle Kriege zwischen 2004 und 2010 gegen die Houthis geführt und auch ihren politischen Führer ermorden lassen. Wie auch immer die nächsten Nachrichten aus dem Jemen lauten werden, für die Bevölkerung dürften sie nicht gut sein.