Die Ausstellung »Joel Meyerowitz. Why ­Color?« in Berlin

Die Bedeutung der Farbe

Joel Meyerowitz war einer der ersten künstlerischen Fotografen, die Farbfilm nutzten. Eine Retrospektive seiner Arbeiten ist jetzt in Berlin zu sehen.

Der Fotograf Henri Cartier-Bresson ließ zu Lebzeiten kein gutes Haar an der Farbfotografie. Sie sei unverdaulich, unästhetisch und formal fehlerhaft. Der Pionier der Straßenfoto­grafie legte ausschließlich Schwarzweißfilm in seine Kamera ein – und wurde trotz seiner Abneigung die wichtigste Inspirationsquelle für die aufstrebenden Fotografen der sech­ziger Jahre, die, statt Graustufen zu nutzen, mit knalligen Farben experimentierten. Radikal war dieser Schritt damals, bunte Familienschnappschüsse wurden auf Kodak-Film aufgenommen, für die Kunst war das tabu. Der Fotograf Stephen Shore, der in den Sechzigern noch in Andy Warhols Atelier, der »Factory«, schwarzweiße Aufnahmen von Warhol, Lou Reed oder Nico gemacht hatte, begann wenig später auf seinen Rundreisen durch die USA, Farbaufnahmen anzufertigen; seine Bilder oszillieren zwischen fotografischem ­Tagebucheintrag und Verballhornung von örtlichen Postkarten. William Eggleston, ebenfalls Vorreiter auf dem Feld der Farbfotografie, tauchte auf seinen Bildern die Tristesse des Landlebens in kitschige Farben. Verlassene Fabriken und einfache Menschen schauen einem auf seinen Aufnahmen entgegen. Shore wie Eggleston waren an der fotografischen Vermessung der Vereinigten Staaten interessiert; Tankstellen, Schnellrestaurants und Autos waren ihre favorisierten Motive. Das Profane des Ortes wurde mit Hilfe der Fotografie zu etwas, das man zweimal anschauen wollte: die Farbe verführte einen dazu.

Der Dritte im Bunde dieser Farbfotografie-Avantgardisten war Joel Meyerowitz, dessen Bilder man derzeit in der C/O Berlin sehen kann. Meyerowitz stellt gewissermaßen eine Ausnahme in diesem Dreigespann dar: Während Shore, inspiriert durch den Schriftsteller Jack Kerouac und den Fotografen Robert Frank (dessen Fotobuch »The Americans« ein Klassiker des Genres ist), auf ­ausgedehnten Roadtrips durch die USA tingelte und Eggleston durch die Betonwüsten der alten Fabrikgelände und Vororte stapfte, blieb ­Meyerowitz in der Stadt, in New York, um es präziser zu sagen: in Manhattan. Die Stadt mit ihren Wolkenkratzern ist das perfekte Umfeld für Fotografen. Die verspiegelten Außenflächen der Gebäude reflektieren das Sonnenlicht in alle Richtungen, jeder Winkel ist perfekt ausgeleuchtet. Hinzu kommen die im Schatten liegenden Häuserschluchten, die man auch in den Fotografien von Meyerowitz beobachten kann: tiefschwarze Flächen, in denen Menschen entweder verschwinden oder aus denen sie auftauchen, sogleich gebadet in gleißendem Licht. Auch sonst gibt es viel zu sehen: Kinderaugen, eigenartige Menschenansammlungen, Werbetafeln, schrille Kleider und Frisuren. Aber nicht allein eines dieser Motive lässt Meyerowitz den Auslöser seiner Kamera betätigen. Er drückt ab, sobald diese Teile in eine Verbindung treten, miteinander im Verhältnis stehen, er wartet auf den Zufall. Straßenfotografie ist das komplizierte Abwarten auf den richtigen Moment, den Moment, in dem genug Zeichen und Bedeutungen aufeinander prallen und aus den vielen unverbundenen Momenten ein Bild entsteht. Meyerowitz ging, im Gegensatz zu Shore und Eggleston, sehr nah dran, mitten rein ins Gewühl, wartete auf diesen Moment und war damit trotz der Farbfotografie der Methode von Henri Cartier-Bresson sehr nahe.

»Why Color?«, der Titel der Retrospektive, ist eine gute Frage. Meyerowitz gibt darauf eine kokette Antwort: »Die Welt war doch nunmal farbig!«

Joel Meyerowitz begann schon früh in den sechziger Jahren, in Farbe zu fotografieren. Als Werbefotograf hielt er sich über Wasser und bezahlte von seinem Lohn eine Reise nach Europa, die er 1966 begann und auf der er ausgiebig fotografierte. Er hielt aber in dieser Zeit auch dem Schwarzweißfilm die Treue. Ab Mitte der Sechziger trug er sogar immer zwei Kameras bei sich, in einer lag ein Farb-, in der anderen ein Schwarzweißfilm. Er nahm die selben Motive mit beiden Geräten auf und konnte später die Bilder vergleichen. Einige dieser Bilderpaare sind auch in der Ausstellung zu sehen. In den schwarzweißen Aufnahmen konzentriert sich die Wahrnehmung auf das Sujet, zum Beispiel auf die Haltung, die ein fotografierter Mann annimmt, oder auf das Lächeln einer abge­bildeten Frau. Doch die darunter hängenden Farbfotografien dagegen ­ziehen den Betrachter in das gesamte Bild. Auch die Ränder werden plötzlich interessant, eine Wasser- oder Grasfläche zum Beispiel. Es ist diese »Bedeutung der Farbe«, von der Meyerowitz spricht, die sich hier erweist und dafür sorgt, dass zwei Bilder, obwohl im gleichen Winkel und zur fast gleichen Zeit aufgenommen, komplett unterschiedlich wirken.

»Why Color?«, der Titel der Retrospektive, ist eine gute Frage. Meyerowitz gibt darauf eine kokette Antwort: »Die Welt war doch nunmal farbig!« Nun ist die Begründung für die Wahl des Farbfilms wohl ein wenig vertrackter als diese einfache Antwort. Meyerowitz kam aus der Werbung, in der es gängig war, in Farbe zu fotografieren. Ansonsten war die Farb­fotografie eine Domäne der Hobbyfotografen, ein Medium der Schnappschüsse und der Familienbilder, in der aufkommenden künstlerischen Fotografie rümpfte man die Nase über die schnöde und kommerzielle Ästhetik der grellen Bilder. Aber ­genau diese »Vorbelastung« durch Werbung und Alltagskreativität ließ die Farbfotografie zu solch einem radikalen Medium in der Kunst werden. Der schon erwähnte William Eggleston trieb es sogar so weit, seine Abzüge – wie die eines Werbemannes – im aufwendigen Dye-Transfer-Verfahren drucken zu lassen, quasi eine Werbung für die Einöde.

Man könnte denken, der Satz von Meyerowitz über die simple Tatsache, dass die Welt farbig sei, würde bedeuten, er wolle sie realistischer oder authentischer abbilden, indem er sie in ­Farbe fotografiert. Aber um eine »natürliche« Abbildung ging es nicht. Vielmehr ist die Aneignung der Gebrauchsware Farbfilm eine Aneignung der Welt und zugleich ihre Übertreibung.