In Tunesien weiten sich die Proteste gegen die Regierung aus

Die Rückkehr der Flammen

Seite 2 – Gespannte wirtschaftliche Situation

Insbesondere die Heftigkeit der gewaltsamen Auseinandersetzungen, die dem Agieren organisierter Gruppen zugeschrieben wird, sorgt für Spekulationen, wer dafür verantwortlich sein könnte. Oft wird eine interessengeleitete Manipulation der Proteste beklagt. Die französisch-tunesische Historikerin Sophie Bessis etwa brachte folgenden Erklärungsversuch vor: »In Tunesien ist ein großer Teil der Wirtschaft eine ­Parallelökonomie. In einer gewissen Anzahl von Regionen haben die Leitenden dieser Parallelökonomie ein großes ­Interesse daran, dass man gegen die Steuern (im Haushaltsgesetz 2018, Anm. d. Red.) protestiert, die ihnen zum Nachteil gereichen.«

Wie dem auch sei, die Unruhen spielen sich in einer überaus gespannten wirtschaftlichen Situation ab. Eine gewisse Nostalgie nach der guten alten Zeit unter dem 2011 gestürzten Ben Ali macht sich bemerkbar, in der es angeblich weniger wirtschaftliche Probleme gab. Aber das ist eine Illusion. »In Wirklichkeit wurde die Wirtschaft seit 2008 schwächer«, sagte der tunesische Ökonom Radhi Meddeb kürzlich Le Monde; in jenem Jahr begann die Wirtschaftskrise in Europa, dem wichtigsten ökonomischen Partner Tunesiens. Und er fügte hinzu: »Vor allem war das Wachstum von schlechter Qualität, sehr ungleich verteilt und schuf keine Arbeitsplätze.« Das tunesische Wirtschaftsmodell konnte unter Ben Ali nur autoritär aufrechterhalten werden, die Regierungen nach seinem Sturz im Jahr 2011 hätten »den sozialen Frieden erkauft: Der Staat hat in großem Maß Einstellungen vorgenommen«, so Michael Ayari, Tunesien-Spezialist des Forschungszentrums International Crisis Group. Die Personalkosten des öffentlichen Diensts stiegen Le Monde zufolge von sieben Milliarden Dinar (umgerechnet 2,35 Milliarden Euro) im Jahr 2010 auf schätzungsweise 15 Milliarden Dinar für 2018. Die Staatsverschuldung liegt bei rund 70 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, weshalb das Land auf internationale Finanzhilfen und Kredite angewiesen ist, unter anderem vom Internationalen Währungsfonds, der im Gegenzug staatliche Sparmaßnahmen fordert. Der tunesische Dinar hat im vergangenen Jahr gegenüber dem Euro mindestens 15 Prozent an Wert eingebüßt.

Der Spielraum der »Regierung der nationalen Einheit« unter Youssef Chahed, in der eine Handvoll Parteien ­inklusive der islamistischen al-Nahda Minister stellen, scheint begrenzt. Es fehlt Geld für Entwicklungsprojekte in den marginalisierten Regionen im Landesinnern, in denen die informelle Ökonomie blüht. Und die Maßnahmen zugunsten armer Familien und erwerbsloser Jugendlicher, die die Regierung angekündigt hat, um die Unruhen einzudämmen, sind vage.

Zudem bröckelt die Unterstützung für die Regierung. Die Partei Nida Tounès, die auf einem antiislamistischen Ticket die Wahlen 2014 gewann, um dann mit der zweitplatzierten al-Nahda in der Regierung zu sitzen, ist wegen ­interner Querelen geschwächt. Mohsen Marzouk, ehemals Mitglied von Nida Tounès und Generalsekretär von deren Abspaltung Machrouû Tounes, sagte am Montag in Hinblick auf Nida und al-Nahda, die beiden Parteien an der Macht würden das Land ersticken, er halte die Regierung der nationalen ­Einheit für Geschichte: »Sie existiert nicht mehr.« Bereits Chaheds Vor­gängerregierung war über soziale Unruhen gestürzt, die aber anders als die derzeitigen überwiegend lokalen Charakter hatten. Noch aber unterstützt die UGTT den Ministerpräsidenten.

Zudem werden Stimmen lauter, die eine autoritäre Formierung in Gestalt ­einer Restauration befürchten – die Rückkehr zu einem Präsidialsystem wie unter Ben Ali unter dem Vorwand, die nach dessen Sturz geschaffenen Institutionen zur ­Reform von Justiz, Medien etcetera seien dysfunktional. Der weitverzweigte Polizeiapparat hat im Namen des Kampfs gegen den jihadistischen Terrorismus Reformbestrebungen widerstanden, in jüngster Zeit wurden diverse Figuren des ancien régime recycelt.

Die staatliche Reaktion auf die gegenwärtigen sozialen Unruhen hat solche Befürchtungen nicht entkräftet. Die nationale Gewerkschaft der tunesischen Journalisten kritisierte am Montag vielfache Rechtsverletzungen und Restriktionen der Behörden und der Polizei gegenüber ausländischen Korrespondenten, die über die Unruhen berichteten. Bereits vergangene Woche hatte Amnesty International eine »exzessive Gewaltanwendung« der Polizei bei den Unruhen und die Festnahme von 15 Aktivisten und Koordinatoren von Fech Testanew kritisiert.