Können Mode, Styles und Looks Identitäten formen?

Du bist nicht, was du trägst

Styles sind Wissen, kein Wesen. Warum Mode keine Identitäten verhandelt.

»Identität« steht augenblicklich hoch im Kurs und im Zentrum heftiger ­Auseinandersetzungen. Die Gegenwart wird digital neu formatiert, der Plattformkapitalismus gestaltet Warenförmigkeit um. Einerseits locken die ­Versprechen des »Long Tail« (Theorie der Journalisten Malcolm Gladwell und Chris Anderson, die besagt, dass im Internetzeitalter Massenmärkte ­gegenüber Nischenmärkten an Bedeutung verlieren, Anm. d. Red.), andererseits hat die Monopolisierung de facto bereits eingesetzt. Einerseits ver­breiten sich fatal vereinfachende populistische Appelle an »das Volk«, andererseits generieren die Umverteilungsdynamiken der Globalisierung unablässig Konflikte.

An vielen Orten lässt sich ein grundlegendes, ein nahezu fundamenta­listisches Behaupten des eigenen »So sein« beziehungsweise dessen Reklamation beobachten. Unter sehr unterschiedlichen Vorzeichen und vor dem Hintergrund realer und absolut anzuerkennender Erfahrungen von Diskriminierung oder Bedrohung wird Identität, teils unter Rekurs auf xeno­phobe und kulturessentialistische Konzepte, zur Rückzugs- und Kampfposi­tion zugleich.

Was man all deren Verfechtern wohl guten Gewissens unterstellen kann, ist, dass sie mit Mode nichts anfangen können.
Weder die Neouniversalisten, die die Klassenfrage zum alten und neuen ­Generalschlüssel erklären, noch die neurechten »Identitären«, die sich auf der Scholle wähnen, aber eben auch nicht Aktivistinnen und Aktivisten, die heute identity politics betreiben, kümmern sich um Mode. Wenigstens darin haben sie recht, denn Mode ist, egal ob man von Couture, Prêt-à-porter, subkulturellen Phänomenen oder ­anderen style communities spricht, ein ästhetisches Phänomen, das Identitätsansprüche über- und gleichzeitig ­unterschreitet, sie unterspült, beiseite lässt, sich um diese Setzungen schlicht nicht schert.

 

Mode kommuniziert und verweigert, Mode erscheint und verschwindet. Sie ist Bindungs- und Trennungskunst. Identisch ist sie nicht.

 

Schon Georg Simmel hat in seiner »Philosophie der Mode« Anfang des 20. Jahrhunderts festgehalten, dass sich nur eines in der Mode nicht wandelt – und das ist der Wandel. An der grundsätzlichen Revidierbarkeit, der Existenz auf Zeit, dem Verschwinden und der Wiederkehr von Schnitten, Looks, Texturen etc. kommt man in der Mode nicht vorbei: »What looks good today may not look good tomorrow.« Alle Klassizismen, vom Kleinen Schwarzen bis zur Blue Jeans, funktionieren nur als solche, weil sie sich implizit zu dieser Wahrheit verhalten. Darauf lässt sich keine Identität aufbauen. Dem kann auch nicht ausweichen, wer, geschult an den Cultural Studies, die in den neunziger Jahren ihre letzte große Blüte erlebten – im Gefolge von Dick Heb­diges Buchs »Subculture. The Meaning of Style« – die Bedeutung von Looks, Styles und Weisen, sich anzuziehen, vor allem darin begründet sieht, dass sie es Individuen ermöglichen, neue Identitäten anzunehmen.

Wer das glaubt, folgt einem kompensatorischen Impuls und sieht in der ­Beschäftigung mit Styles etwas Frivoles, das durch deren angeblichen heimlichen Beitrag zum Klassenkampf kompensiert werden muss, oder hat nicht verstanden, inwiefern Mode in gesellschaftlichen Verhandlungen Bedeutung erlangt – eine Einsicht, die etwa der Differenzfeminismus und dessen modetheoretische Ausfaltung in den Schriften Barbara Vinkens sehr plausibel macht.

Mode ist eine Agentur, die in der individuellen und kollektiven Entwicklung, Modifikation und Verteilung, auch der Revision von Formen eben genau das artikuliert: Differenz. Wer aber aus diesen Differenzen wiederum die ­Konstruktion eines »Eigenen« ableitet, liegt schlicht falsch: Jede und jeder, die oder der Mode beobachtet und ein Bewusstsein für sie entwickelt, weiß, dass sich ihre Zeichen, immer zeitabhängig, mal stärker, mal diskreter ­lesbar, mal offen, mal abgrenzend, immer im Feld und im Nebeneinander mit allen anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmern entfalten.

Mode kommuniziert und verweigert, Mode erscheint und verschwindet. Sie ist Bindungs- und Trennungskunst. Identisch ist sie nicht. Und auch der Moment, in dem man online, auf der ­Straße, auf der Seite eines Magazins einen großartigen Look, einen eleganten Schnitt, einen seltsamen Farbton entdeckt, zementiert kein Eigenes, sondern ist ein Moment der Anerkennung dessen, was da vor einem liegt. Wer wiederum für einen Look Anerkennung erntet, tut dies, weil sie oder er gut ­gewählt hat, ein gutes Auge hat, weiß, welche Outfitkombination wie, wo und gegen was signifiziert, kurz: weil sie oder er etwas kann. Das ist eine Fertigkeit, das ist Wissen, kein Wesen.

 

Ästhetische und formale Anschlüsse sind keine Identitäten

 

Um es anschaulicher zu machen: ­Einer der erfolgreichsten jüngeren Designer der Gegenwart – der Russe Gosha Rubchinskiy – arbeitet in seine Entwürfe eine ganze Reihe von farblichen und materiellen Referenzen an die Looks von Skatern und anderen Jugendgruppen im post­sozialistischen Russland ein. Da sind die seltsam aus­geblichenen Rot-, Grün- und Blautöne; die sich sehr »synthetisch« anfühlenden Jacken- und Jeansstoffe; da sind die diagonal gesetzten Schriftzüge auf rotem Grund, die noch weiter in die ­Geschichte sowjetischen Designs bis in die zwanziger Jahre zurückschauen, in denen stilisierte Abbildungen und Embleme Uniformen für Sport und ­Arbeit schmücken sollten, wie sie sich die Konstruktivistinnen und Konstruktivisten vorstellten. Hinzu kommt der selbstbewusste Gebrauch des ­kyrillischen Alphabets, der Rubchinskiys Namen in den Augen einer west­lichen Kundschaft zum kaum lesbaren, aber graphisch-bildartig wiedererkennbaren Signet macht und mit dem er das Logo der Skatemarke Thra­sher sozusagen von Osten her betrachtet.

Dies hat alles sehr viel mit ästhetischen und formalen Anschlüssen an eine national und postnational formatierte Ressource von Kleidungsweisen zu tun, mit deren sozialer Einbettung sowie mit kulturellen Dynamiken und Hegemonien – aber nichts mit »Identität«.

Rubchinskiy-Fans – die seine Entwürfe hauptsächlich durch die in ­Japan und Frankreich beheimatete Marke der Modedesignerin Rei ­Kawakubo, Comme des Garçons, und den zugehörigen Dover Street Markets erwerben können – signalisieren ­weder ihre Zugehörigkeit noch Nichtzugehörigkeit zum postsowjetischen Kulturraum, dessen Perspektiven zwar in die Entwicklung des Styles eingehen, aber als Mode eben nicht mehr von dort aus sprechen. Wenn es hier überhaupt zu einer Ausbildung eines community look kommt – den man wiederum nicht mit »Identität« verwechseln sollte – so kann man, wie es die Autorin, Künstlerin und Stylistin Ella Plevin vorgeschlagen hat, eher von Outfits für Fuckboys sprechen, die sich durch ­einen bestimmten, auf den ersten Blick »vulnerablen«, de facto aber zynisch-abgezockt-passiven Habitus kennzeichnen.

Genauso wenig kulturalistisch sind übrigens die verschiedenen Durch­arbeitungen von US-amerikanischen Kulturreferenzen aller Sorten, die der Designer Raf Simons, der vom belgischen Newbeat und der Liebe für ­Uniformen des Industrial Design zutiefst »europäisch« geprägt ist, in seinen ersten Kollektionen für die US-Megamarke Calvin Klein unternimmt. Die Referenzen an die New Yorker ­Warhol Factory nerven hier zwar, aber eben weil sie sich an einen bestimmten Untergrundmythos anhängen, und nicht, weil sie eine Factory-artige »Identität« subkultureller Antistars propagieren würden.

Das Missverständnis findet man sogar bei anderweitig sehr hellsichtigen Theorien, etwa bei den in den neunziger Jahren extrem populären Betrachtungen des Tanzstils Voguing, die in dessen Posen Modelle für die generelle Perfomativität von Gender sahen. Daraus wurde dann schnell ein Verständnis, das annahm, auch an den täglichen Performances der Mode könne man ­sehen, wie Identitäten aufgeführt würden. Das ergibt aber nur Sinn, solange Identität und Aufführung als Widerspruch wahrgenommen werden. Diese Interpretation vernachlässigt die viel wichtigeren Aspekte, die hinter Voguing stehen: die Skills, die Aneignungsmacht aus der Position der Unterprivilegierten, das Können und die Anerkennung, die dafür gezollt werden müssen, die Solidarität zwischen denen, die andernorts von ihren Familien verstoßen wurden und, ja, auch die Er­findungskraft. Auf dem Runway, auf der Straße oder online werden so neue Gesten, Styles, neue Körper erfunden, indem vorhandene modifiziert, differenziert, dem ständigen Urteil unterworfen werden.

Selbst da, wo stilistische Kohärenz, eine Signatur sichtbar wird, ist diese eben genau dies: Markenzeichen eines Tuns und nicht die Marksteine von Identitäten.

 

Philipp Ekardt lebt in London, ist ehemaliger Chefredakteur der Kunstzeitschrift »Texte zur Kunst« und arbeitet zur Zeit an einem Forschungsprojekt zu Theorie und Literatur der Bildzirkulation in der GoetheZeit. Sein Buch »Benjamin and Fashion« erscheint Ende diesen Jahres bei Bloomsbury Academic.