Die Sehnsucht nach dem autoritären Staat gibt es in ganz Deutschland

Sachsen über alles

Im Schatten sächsischer Residenzschlösser gedeihen Sexismus, Rassismus und völkisches Denken besonders gut. Doch Hass gibt es auch anderswo.
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Sommer 1991. Wenige Wochen bevor einheimische und zugereiste Rassisten das sächsische Hoyerswerda nach tagelangen Ausschreitungen zur »ersten ausländerfreien Stadt« ausriefen, stand ebendort ein Mann auf dem Dach eines Plattenbaus. Unten hatte sich eine Zuschauermeute zusammengefunden. »Spring doch!« riefen sie im Chor. Systemzusammenbruch in einer ehemaligen »sozialistischen Musterstadt«.

»Mehr rechte Straftaten an sächsischen Schulen« (Die Welt), »Rechtsradikale und ›Reichsbürger‹ an Sachsens Schulen aktiv« (Leipziger Internetzeitung), »Schüler beschimpft Lehrerin: Sie ­gehören nach Auschwitz!« (Freie Presse) – Schlagzeilen aus Sachsen im Jahr 2018. Die Zahl rechtsextremer Konzerte hat sich 2017 im Vergleich zum Vorjahr verdoppelt. Nur in Brandenburg gibt es gemessen an der Einwohnerzahl mehr Angriffe auf Flüchtlinge und ­deren Unterkünfte. Es wird schlimmer. In den Zeitungen steht davon wenig. Ein Déjà-vu?

Michael Kühnen, Neonazi-Wiedervereiniger und Verfechter einer »völkischen Kulturrevolution«, hatte Dresden einst zur neuen »Hauptstadt der Bewegung« erklärt. In den Neunzigern entstanden rechtsfreie Räume, sie umfassten Straßenzüge, ganze Ortschaften. Heftige Gewalt gegen alle, die »anders« waren, nicht mitmachten, dichthielten und konform gingen, verwüstete die Grundlagen des Miteinanders. Entgrenzung, Angstlust, Hass. Angesichts von Abwanderung, Überalterung und schwindender Infrastruktur im Ländlichen stellt die Schaffung »ausländerfreier Zonen« für manchen bis heute einen Erfolg, eine Art Lebensleistung, dar.

In Sachsen, wo der Kommunistenhass gleich neben der Patriotenpflicht rangiert, kommen Begriffe wie Rassismus oder Antifaschismus noch schwerer über die Lippen als anderswo. Die CDU des Landes orientiert sich an der CSU und Viktor Orbán, ist Staatspartei, stellt Ministerpräsidenten, Landräte, Verfassungsschutzpräsidenten. Rechts einsammeln und vernetzen, Linke bekämpfen, so läuft das seit Amtseinführung des »Freiheit statt Sozialismus«-Königs Kurt Biedenkopf 1990. Doch die Geister, die man damals rief, sind inzwischen außer Rand und Band geraten. Die Pegida-Märsche überführten den Geist der Neunziger in eine breite soziale Bewegung von rechts, deren politischer Arm, die AfD, sich nun anschickt, die einstigen Förderer zu übertrumpfen.

Ihre Kommunikationsmittel mögen sich geändert haben, die Feindbilder sind dieselben geblieben. Ebenso wie die Akteure: Jene, die 1992 als Teil des Mobs nach »Hoywoy« pilgerten, sind weiter ­dabei. Nur starren sie heute auf Smartphones und warten via Facebook und Twitter in Echtzeit auf den Kick, den Startschuss zum ­Feierabendterrorismus. Besorgte Bürger als Vollstrecker. Hinter ihrem Schlachtruf »Merkel muss weg« verbirgt sich die Sehnsucht nach einem autoritären Staat. »Mutti« soll einpacken. Vati an die Macht.

Der Verzweifelte aus Hoyerswerda ist damals wieder vom Dach geklettert. Vielleicht, weil er die Häme der Schaulustigen noch mehr fürchtete als den Tod. Etwa 10 000 Menschen nehmen sich in Deutschland jedes Jahr das Leben. Sachsen führt diese beklemmende Statistik an. Mag sein, dass im Schatten sächsischer Residenzschlösser Elend, Sexismus, Rassismus und völkisches Denken ein bisschen besser gedeihen als anderswo. Doch Rechtssein ist vielerorts die dominierende Alltagskultur.

28 Jahre nach Mauerfall sind es nicht einzelne Städte, Landstriche oder Bundesländer, in denen es besonders menschenfeindlich zugeht. Flächendeckend hasst es in ­allen Provinzen, und wo sich die Lage verbessert hat, haben Menschen unentwegt viel geleistet, ausgehalten und gekämpft. Gegen den Ruf, Verräter zu sein, gegen phlegmatische Behörden, Gleichgültigkeit, unverhohlene Anfeindungen und handfesten Terror. Um es mit İmran Ayata zu sagen: »Deutschland liegt in Sachsen.«