Der mexikanische Präsidentschaftskandidat López Obrador schimpft lieber über Korruption als über den Kapitalismus

Moralismus statt Systemkritik

Bei den mexikanischen Präsidentschaftswahlen hat der Kandidat der linken Bewegung Morena gute Chancen. In Andrés Manuel López Obradors Wahlkampagne geht es vor allem gegen amoralische und »korrupte Eliten«, nicht um eine Kritik des Wirtschaftssystems.

Hört man die Rhetorik der Regierungspartei PRI (Partido Revolucionario ­Institucional) und auch die der konservativen Oppositionspartei PAN (Partido Acción Nacional), könnte man annehmen, bei den mexikanischen Präsidentschaftswahlen im Juli 2018 stünde der wiederauferstandene Hugo Chávez zur Wahl. Vor »venezolanischen Zuständen« warnte der derzeitige Präsident Enrique Peña Nieto (PRI) zuletzt in einem Interview, sollte der linke Kandidat Andrés Manuel López Obrador als Sieger aus der Wahl hervorgehen.

Zum dritten Mal in Folge tritt der ehemalige Bürgermeister von Mexiko-Stadt (2000–2005) bei Präsidentschaftswahlen an. Sowohl 2006 als auch 2012 unterlag er als Kandidat der sozialdemokratischen Partei PRD (Partido de la Revulución Democrática) nur knapp. Beide Wahlen zogen Proteste gegen die Praxis des Stimmenkaufs und vermutete Wahlmanipulation nach sich, weshalb López Obrador seit 2006 unter seinen Anhängern als »legitimer Präsident« gilt. Nach der Wahlnieder­lage 2012 trennte er sich vom PRD. 2014 gründete er die neue Partei Morena (Bewegung zur Erneuerung der Nation), die sich seither unter seinem Vorsitz auf die Präsidentschaftswahlen 2018 vorbereitet.

Acht von zehn Mexikanern sind aktuellen Umfragen zufolge unzufrieden mit der Regierung unter Peña Nieto, der laut Verfassung nicht erneut kandidieren darf, Schuld daran sind unter anderem nicht aufgeklärte Verbrechen mit staatlicher Beteiligung, wie der Fall der Verschleppung und mutmaßlichen Ermordung der 43 Studenten von Ayotzinapa 2014, Korruptionsskandale und eine Energiereform, die die Benzinpreise enorm steigen ließ. Allein schon der weitverbreitete Wunsch, die PRI-Regierung abzuwählen, dürfte Morena zugute kommen. López Obradors Chancen stehen gut. José Antonio Meade Kuribreña, der von einem vom PRI angeführten Wahlbündnis aufgestellt wurde, und Ricardo Anaya Cortés, den gemeinsamen Kandidaten von PRD, PAN und der Bürgerbewegung (MC), lässt er in Umfragen bislang weit hinter sich.

Eine grundsätzliche Transformation des Landes versprach López Obrador am 11. Februar bei der Abschlusskundgebung seiner Vorwahlkampagne in Guadalajara vor rund 30 000 Anhängern. Eine Transformation, die so bedeutend werden solle wie der mexikanische Unabhängigkeitskrieg, die Reformen des liberalen Präsidenten Benito Juárez (1858–1872) und die Mexikanische Revolution von 1910. Solche Töne erinnern in der Tat an den »Sozialismus des 21. Jahrhunderts«. Programmatisch hat López Obrador jedoch wenig gemein mit den Bewegungen in Venezuela und Bolivien, deren Wahlerfolge um die Jahrtausendwende eine politische Linkswende in Lateinamerika einleiteten. Zwar verspricht López ­Obrador den Wiederaufbau des mexikanischen Sozialstaats, höhere Renten und ein umfassendes Stipendiensystem. Pläne, dies wie in Venezuela oder Bolivien durch eine Verstaatlichung der Rohstoffvorkommen oder sozialpolitische Umverteilung zu erreichen, gibt es hingegen nicht.

 

Programmatisch hat López Obrador wenig gemein mit den Bewegungen in Venezuela und Bolivien, deren Wahlerfolge um die Jahrtausend­wende eine politische Linkswende in Lateinamerika einleiteten.

 

Die Transformation, von der er spricht, beinhaltet keine tiefgreifenden wirtschaftlichen oder politischen Reformen. Es handelt sich in erster Linie um einen moralischen Diskurs und das Versprechen, »korrupte Eliten« zu entmachten. Nicht lügen, nicht stehlen und das Volk nicht verraten, das seien die drei zentralen Punkte seines Programms, so López Obrador in Guadalajara. »Machen wir dieses Land wieder moralisch«, rief er seinen Anhängern zu. Er wolle das politische System von oben nach unten »durchfegen« und die »Machtmafia« beseitigen. In seinem programmatischen Buch »2018: Der Ausweg« beschreibt er die Korruption als »Hauptgrund für die Ungleichheit und die nationale Tragödie«. Ihre Beseitigung gilt López Obrador daher als Allheilmittel für die politischen Probleme des Landes. Der Teil des Staatshaushalts, der bislang für die Bereicherung einzelner Politiker und ihrer Ange­hörigen abgezweigt worden sei, solle fortan für die Entwicklung des ländlichen Raums und für Sozialleistungen zur Verfügung stehen – soziale Gerechtigkeit durch Korruptionsbekämpfung, nicht durch Erhöhung von Steuern für Privatpersonen und Unternehmen, lautet sein Versprechen. Auch das Parteienbündnis des Kandidaten Anaya machte die Beendigung der Korruption zu einem seiner zentralen Wahlkampfthemen.

Ohne Frage zählt die Korruption zu den drängendsten Problemen Mexikos. Die sozialen Konflikte lassen sich aber nicht einfach in moralische Fragen auflösen. Dass über die Hälfte der erwerbstätigen Bevölkerung von informellen Arbeitsverhältnissen lebt, dass das Leben weiblicher Arbeitskräfte in den maquiladoras, den zollfreien Produktionszonen, nichts zählt und dass mit der Privatisierung von Gemeindeland der ländlichen Bevölkerung die Lebensgrundlage entzogen wurde, sind Folgen des wirtschaftsliberalen Kurses, den das Land in den achtziger Jahren einschlug, als eine Schuldenkrise es zu umfassenden Strukturanpassungen zwang. Der moralische Diskurs entpolitisiert und verhindert, dass Zusammenhänge zwischen Menschenrechtsverstößen und dem Wirtschaftsmodell des Landes thematisiert werden. Vor allem im Bergbausektor, dessen Entwicklung sowohl die Regierung Peña Nieto als auch die seines Vorgänger ­Felipe Calderón forciert haben, kommt es bei Landkonflikten zwischen lokaler Bevölkerung und internationalen Bergbauunternehmen immer wieder zu schweren Menschenrechtsverletzungen. López Obrador jedoch schlug zuletzt vor, weitere Konzessionen an kanadische Bergbauunternehmen zu ver­geben. Für über zehn Prozent seiner Landesfläche hat Mexiko bereits Bergbaukonzessionen vergeben, das heißt, der mexikanische Staat hat Unternehmen die Erlaubnis erteilt, dort künftig zu fördern.

López Obradors Reformprogramm richtet sich gegen die politische Führungsschicht des Landes, nicht jedoch gegen Kapitalinteressen – er ist kein Antikapitalist. Vom wirtschaftsliberalen Entwicklungsmodell Mexikos, das ­stellen er und sein Umfeld immer wieder klar, soll nicht abgewichen werden. Das Freihandelsabkommen Nafta sei »sehr wichtig für den Wohlstand der Mexikaner«, so kürzlich seine designierte Wirtschaftsministerin, Graciela Márquez. López Obrador will die Autonomie der mexikanischen Notenbank nicht antasten und allein über Korruptionsbekämpfung einen Haushaltsausgleich anstreben. Die Zentralbank hat ihren Autonomiestatus erst 1994 in Folge der Wirtschaftskrise erhalten, um die Inflation zu bekämpfen. Dass ein linker Wahlsieger diesen Status hinterfragen oder zumindest auf eine expansivere Geldpolitik hinwirken könnte, wurde von Kritikern befürchtet, weshalb López Obrador diesen Punkt immer wieder betonte. Im Dezember stellte der mexikanische Unternehmerverbandspräsident Juan Pablo Castañón daher wohlwollend fest, der makroökonomische Rahmen stehe bei ­López Obrador nicht zur Disposition. Alle drei aussichtsreichen Kandidaten stünden für ökonomische Kontinuität.

Dass der moralisierende Populismus auch eine autoritäre Seite hat, zeigt sich, wenn Kritik von links am Projekt López Obradors aufkommt. Als im Mai vergangenen Jahres, ausgehend von einer Initiative der Zapatistas, der Kongress der Indigenen (CNI) ankündigte, mit seiner Sprecherin María de Jesús Patricio Martínez eine eigene Kandidatin für die Wahlen aufzustellen, reagierte das Lager López Obradors ungehalten.

In sozialen Netzwerken finden sich unter Nachrichten über die indigene Kandidatin regelmäßig rassistische und frauenfeindliche Kommentare. Deren Tenor: Sie solle lieber Wäsche waschen oder Tortillas backen und werde López Obrador nur unnötig Stimmen kosten. Er selbst warf den Zapa­tistas und dem CNI vor, die Linke zu spalten und damit die Regierungspartei PRI zu stützen. Wer López Obrador nicht vorbehaltlos unterstützt, gerät schnell in Verdacht, mit der »Machtmafia« unter einer Decke zu stecken. Letztlich wurde Patricio Martínez nicht als Kandidatin zugelassen, weil sie nicht genug Unterstützungsunterschriften einreichen konnte.