Yasha Mounk, Politikwissenschaftler, über Populismus und die Zukunft der liberalen Demokratie

»Wir können den Nationalismus domestizieren«

Die Grundannahme, dass die liberale Demokratie durch Wohlstand gesichert sei, stimmt nicht, sagt Yascha Mounk, Politikwissenschaftler an der Harvard University. In seinem neuen Buch »Der Zerfall der Demokratie: Wie der Populismus den Rechtsstaat bedroht« stellt er mögliche Wege aus der Krise vor.
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In Deutschland zeigen einige der jüngsten Umfragen die AfD auf dem gleichen Niveau wie die stark geschwächte SPD. Was bedeutet das für die Demokratie?
Das Problem, das sich in Deutschland gerade stellt, ist viel gravierender, als es meisten Kommentatoren und Politikwissenschaftler glauben wollen. Wir stehen vor einer Krise für die Bundesrepublik.

Weil nicht gleich eine Regierung zustande kommt, kann man von einer Staatskrise sprechen?
Es geht weit über die Frage der Großen Koalition hinaus. Es geht vielmehr um eine fundamentale Veränderung der Struktur der deutschen Demokratie. Monatelang wurde darüber diskutiert, ob die SPD in die Große Koalition einsteigt oder nicht. Aber im Endeffekt ist es so, das es keine Mehrheiten für ideologisch kohärente Koalitionen gibt. Hätte man diese, könnte beispielsweise mal eine Mitte-links-Koalition eine Mitte-rechts-Koalition ablösen oder umgekehrt. Momentan gibt es dafür keine Mehrheit, insofern ist es egal, ob wir eine Große Koalition, eine »Jamaika-Koalition« oder eine Minderheitsregierung haben, es läuft auf das gleiche hinaus: Die Behauptung der Populisten, es gebe keine Unterschiede zwischen den Parteien, wird wahr. Denn wenn sie immer koalieren müssen, unterscheiden sie sich nicht. Die einzige Weise, die Regierung abzuwählen, ist, für die Populisten zu stimmen. Ob man für die Grünen oder die CSU stimmt, man bekommt am Ende vielleicht die gleiche Regierung.

In Ihrem gerade erschienen Buch zeichnen Sie ein sehr düsteres Bild von der derzeitigen Situation liberaler Demokratien weltweit. Was ist die Kernthese Ihres Buches?
Die Kernthese lautet, dass die Demokratie vom Populismus wirklich bedroht ist. Die Grundannahme, die wir vor ein paar Jahren noch hatten, dass die liberale Demokratie in Ländern wie Deutschland, den USA oder Schweden auf immer gesichert sei, müssen wir hinterfragen. Man sieht in Polen und Ungarn, erst recht in der Türkei oder Russland und sogar in den USA, wie schnell es zu grundsätzlichen Veränderungen kommen kann.

Wie sind Sie zu dem Thema gekommen?
Eine der Grundannahme vieler Experten über liberale Demokratien ist, dass die Demokratie irgendwann gesichert sei, wenn die Menschen relativ wohlhabend sind und Regierungen ein paar Mal durch Wahlen gewechselt haben. Ich habe durch meine eigenen Beobachtungen festgestellt, dass diese Grundannahme nicht stimmt. Es lässt sich ein gegenläufiger Trend feststellen, der schon vor einer ganzen Weile eingesetzt hat.

Woran machen Sie diesen Trend fest?
Ob Österreich mit Jörg Haider, die Niederlande mit Pim Fortuyn und ­Geert Wilders oder Frankreich mit Jean-Marie Le Pen: in den letzten Jahrzehnten genossen Populisten einen deutlich höheren Zuspruch, als es in den Jahrzehnten zuvor der Fall war. Auch in den Kernländern der liberalen Demokratie ist Umfragen zufolge, dass die Anzahl der Menschen, die sagen, es sei ihnen wichtig, in einer Demokratie zu leben, sehr stark gesunken. In Deutschland etwa ist die Anzahl der Menschen, die sagen, sie hätten gerne einen starken Anführer, der sich nicht um Wahlen und Parlamente schert, stark gestiegen.

 

Es braucht ­einen inklusiven Patriotismus, mit dem wir uns ganz klar gegen den Nationalismus der Rechten wenden, die ja behaupten, dass Schwarze oder Muslime nicht zu uns gehören können. Wir müssen zeigen, dass die Nation noch etwas wert ist im 21. Jahrhundert, im Zeitalter der Globalisierung.

 

Wie sah es denn in der Zeit davor aus?
In den USA kann man beispielsweise beobachten, dass es auch zu Zeiten des Vietnam-Kriegs und der Präsidentschaft Richard Nixons viele Leute gab, die von ihrer Regierung enttäuscht waren, aber es hat sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht um eine generelle Skepsis gegenüber dem System gehandelt. Als das Meinungsforschungs­institut Gallup Anfang der Siebziger zum ersten Mal die Leute befragte, ob sie Vertrauen in die Politik haben, hat eine Mehrheit da bejaht. Mittlerweile sagt das nur noch ein kleiner Teil.

Und der Vertrauensverlust wird immer größer?
Das Misstrauen wächst seit langer Zeit sehr stark, und das ist ein Trend, der sich in allen liberalen Demokratien beobachten lässt. Das hat in den siebziger und achtziger Jahren auf sehr viel niedrigerem Niveau begonnen.

Wie erklären Sie sich das?
Besonders besorgniserregend ist, dass gerade junge Leute gegenüber dem politischen System skeptisch eingestellt sind. Da sie es oft es wirtschaftlich nicht leicht haben und da sie oft noch mehr als die ältere Generation in ihren Hoffnungen enttäuscht worden sind, ist das vielleicht nicht weiter erstaunlich. Man darf aber auch nicht ­außer Acht lassen, dass diese Einstellungen in allen Altersgruppen stärker geworden sind. In Deutschland waren es vor 20 Jahren 16 Prozent, die einen starken Anführer wollten, mittlerweile sind es 33 Prozent.

Heißt das, die nach wie vor eher am Modell der liberalen Demokratie ausgerichteten Leitmedien reden an einem Drittel der Bevölkerung ­vorbei?
Es ist nicht so, dass die Leute sagen, sie wollten die Demokratie abschaffen und wüssten, wie die Alternative aussieht. Aber es gibt eine große Unzu­friedenheit mit dem Status quo, die Akzeptanz schafft für autoritäre Experimente. Der Populismus kann diese Wut gegen unabhängige Institutionen, ­gegen die Gewaltenteilung und den Rechtsstaat richten und langfristig die Demokratie abschaffen. In Ungarn und Polen geschieht das gerade, in Russland und der Türkei konnte man es b­ereits in den vergangenen Jahren beobachten.

Was erwarten Sie für die Zukunft, wenn es weiter geht wie bisher?
Sorgen machen mir vor allem die langfristigen Triebkräfte für den Populismus, vor allem die wirtschaftliche Stagnation für durchschnittliche Bürger, die misslungene Transformationen einer monoethnischen in eine multi­ethnische Gesellschaft und die Veränderungen in der Struktur unserer Kommunikation. Wenn wir das alles nicht meistern, dann werden die Populisten weiter an Zustimmung ­gewinnen. In Deutschland scheinen viele Politiker noch zu glauben, die Populisten werden in vier Jahren wieder bei drei oder sieben Prozent der Stimmen sein. Wenn es keinen konsequenten Richtungswechsel gibt, würde ich hingegen eher mit einem weiteren Anstieg auf 20 oder 25 Prozent rechnen.

 

Der Nationalismus ist zu stark

 

Sie sprechen von wirtschaftlicher Stagnation. Österreich und Deutschland geht es aber wirtschaftlich ­vergleichsweise gut, der Populismus erstarkt dennoch. Wie passt das ­zusammen?
Die wirtschaftliche Stagnation ist ein Tiefengrund. Es ist etwas, das den Menschen das Vertrauen in die Politik nimmt. Das bedeutet nicht, dass man persönlich in der Krise stecken muss. Die Demokratie hat sich in der Nachkriegszeit dadurch legitimiert, dass die Leute dachten, es ginge ihnen viel besser als ihren Eltern und ihren Kindern werde es noch besser gehen. ­Vielleicht vertraute man den Politikern nicht vollkommen, vielleicht hegte man ein wenig Skepsis ihnen gegenüber, aber am Ende zweifelte niemand wirklich daran, dass sie für mehr Wohlstand sorgen. Es ist genau diese Legitimation, die abhanden gekommen ist.

Was müsste aus Ihrer Sicht beispielsweise in Deutschland passieren, um dem populistischen Trend entgegenzuwirken?
Man muss den Menschen wieder die Hoffnung auf eine bessere Zukunft ­zurückgeben, und das natürlich glaubhaft. Es muss wirtschaftliche Reformen geben, die sicherstellen, dass die durchschnittlichen Deutschen in 30 Jahren ein besseres Leben haben. Das geht über eine dringend notwen­dige Umverteilung hinaus. Die Reformen müssen eine Digitalisierung der wirtschaftlichen Infrastruktur beinhalten und beträchtliche Investitionen in den Bildungssektor. Sie müssen zudem Globalisierung und Freihandel sichern, aber viel mehr bei der Bekämpfung der Steuerflucht bewirken, so dass Firmen, die in Deutschland tätig sind, in Deutschland ihre Steuern bezahlen. Es muss viel mehr dafür getan werden, dass Leute durch ihr Einkommen wohlhabend werden können; gleichzeitig müssen die Vermögen, die sie geerbt haben, besteuert werden.

Sie wollen den Nationalismus der Rechten also mit Standortnationalismus bekämpfen?
Der Freihandel ist für Deutschland wichtig und auch aus internationaler Perspektive richtig; da er zum Beispiel Millionen Inder und Chinesen aus der Armut befreit hat. Die Globalisierung steuern zu wollen hat nichts mit Standortnationalismus zu tun. Es geht mir um die Möglichkeit der positiven Identifikation. Den Menschen muss in ihrer Arbeit Zugehörigkeit, Status und Stolz ermöglicht werden. Es braucht ­einen inklusiven Patriotismus, mit dem wir uns ganz klar gegen den Nationalismus der Rechten wenden, die ja behaupten, dass Schwarze oder Muslime nicht zu uns gehören können. Wir müssen zeigen, dass die Nation noch etwas wert ist im 21. Jahrhundert, im Zeitalter der Globalisierung. Und dass wir mehr gemeinsam haben als Deutsche, als die Unterscheide von Religion und Kultur es vielleicht suggerieren würden.

Das klingt wie Nationalismus light. Rennt man den Populisten damit nicht nur hinterher und stärkt sie am Ende noch? Muss man nicht auch in gefährlichen Zeiten daran festhalten, etwas Besseres zu wollen als die Nation?
Aufgrund meiner Familiengeschichte und aufgrund meiner politischen ­Präferenzen habe ich lange gehofft, dass wir den Nationalismus einfach ­abschaffen und hinter uns lassen können. Mittlerweile glaube ich, dass er dafür zu stark ist. Ich sage immer, der Nationalismus ist wie ein halbwildes Tier. Wenn man es sich selbst überlässt, kommen die Rechten und stacheln es an, damit es so gefährlich und ekelhaft wie möglich wird. Oder wir können den Nationalismus domestizieren und zu einem Nutztier machen. Das ist die bessere, weil weniger gefährliche Lösung. Wenn wir den Nationalismus auf positive Weise besetzen, auf eine Weise, die keine Ressentiments schürt, sich nicht gegen andere Länder und andere Menschen wendet, dann ist es kein Problem, Patriot zu sein.