Kritische Astrologie - Die Lebenszeit und ihre Macht über unser Leben

Die schon länger hier Regierenden

Kolumne Von

Eine sehr schöne und nur scheinbar paradoxe Entwicklung im Kapitalismus ist, dass die individuellen Lebens- und Arbeitsverhältnisse immer ­fragmentierter, immer zeitweiliger werden, wohingegen sich die politische Repräsentation dieser Verhältnisse kühn in die Ewigkeit fortschreibt. Während der Lohnarbeiter tapfer in den 200 Meilen entfernten Pendelstandort fährt, der 50. Wochenstunde im befristeten Drittjob hinterherhechelnd, wählt er seine offiziellen Vertreter in Sicherheiten hinein, die früher dem Adel vorbehalten waren. Ein drittes Jahrzehnt Angela Merkel, ein viertes Jahrzehnt Wladimir Putin, ein zweites Jahrhundert Silvio Berlusconi – wer die ­»Tagesschau vor zwanzig Jahren« auf Twitter abonniert hat, sieht nur mehr bekannte Gesichter. Erfahrung zählt; und Neueinsteiger wie der frischgebackene deutsche Innenminister Horst Seehofer müssen neidvoll auf die alten Hasen schauen. »Sie (Merkel) ist in der Früh um zwei Uhr, wenn wie zuletzt der Koalitionsausschuss noch tagt, nach meinem Eindruck noch bedeutsam fitter und konzentrierter als ich zum Beispiel«, so der Nachwuchsminister.

Sehr löblich ist daher auch die Idee des chinesischen Präsidenten Xi Jinping, sich gleich auf Lebenszeit einstellen zu lassen; wie die Geschichte lehrt, hat es staatlichen Systemen immer sehr gut getan, wenn uralte ­Leute regieren.
Es kommt dahin, dass niemand mehr ein ganzes Leben lang denselben Job ausüben wird außer Politikern – was die Leute sich selbst versagen, übertragen sie an diejenigen, die ohnehin das Sagen haben. Politiker werden bald die einzigen sein, die überhaupt noch eine Biographie, überhaupt noch eine Lebenszeit ­haben; alle anderen haben nur mehr Projekte. Amtszeit und Lebenszeit fließen ineinander, bis das Leben vom Amt nicht mehr zu trennen ist. Wir zwingen Politiker in eine Unsterblichkeit hinein, die wir uns selbst nicht zumuten, ja aus der wir noch hinausfliehen, wenn wir unser Facebook- und Twitter-Gestammel anonym der Ewigkeit anvertrauen. Sie müssen Menschen an unser statt sein, für uns leben und sterben. Sie sind um ihr Schicksal nicht nur zu beneiden.