Elfmeter gegen den KGB

Nikolai Petrowitsch Starostin gründete Spartak Moskau, erneuerte den sowjetischen Sport und verbrachte zehn Jahre im Gulag.

Wie immer kamen die Schergen der Diktatur in der Dunkelheit: In der Nacht zum 21. März 1942 wachte der beliebte russische Fußballer Nikolai Starostin auf, als jemand seinen ­Namen brüllte, und starrte schlaftrunken in das Licht einer starken ­Taschenlampe. Und in die Läufe mehrerer auf ihn gerichteter Pistolen. Starostin wurde verhaftet und in die berüchtigte Lubjanka gebracht. Auch seine beiden Brüder Alexander und Andrej, ebenfalls berühmte ­Kicker, landeten in dem KGB-Knast. Ein dritter Bruder, auch ein Fuß­baller und gerade an der Front im Krieg gegen Nazideutschland, folgte wenige Wochen später.

Fast zwei Jahre lang verhörten und folterten die Agenten von Geheimdienstchef Lawrentij Berija die Starostins. Schläge, Isolationshaft, Schlafentzug – das ganze Programm. Im November 1943 verurteilte ein Gericht die vier Brüder wegen »Befürwortung bourgeoisen Sports und des Versuchs, bourgeoise Moral in den ­sowjetischen Sport einzuschleppen«, zu zehn Jahren Arbeitslager.

Nikolai Starostin hatte sich einen mächtigen Feind gemacht, ohne es zu ahnen. 1924 spielte er mit dem Verein »Moskauer Sportzirkel«, der später in »Krasnaia Presnia« umbenannt wurde, ein Freundschaftsspiel gegen eine georgische Mannschaft, bei der Lawrentij Berija als Linksaußen kickte. Berijas Elf erlitt eine vernichtende Niederlage und der glatzköpfige Mann, der neben dem Fußballspielen Karriere beim Geheimdienst machte, war keiner, der eine Niederlage sportlich nehmen konnte. Berija galt sogar für stalinistische Verhältnisse als extrem rachsüchtig, brutal und inhuman. Wenn er einmal jemanden als Feind ausgemacht hatte, sei es des Staats oder seiner selbst, gab er kein Pardon.

Die Sportszene der frühen Sowjetunion war nach politischen Einflusssphären aufgeteilt. Grob gesagt gab es Vereine, die den Gewerkschaften und Kombinaten und somit der Basis der Kommunistischen Partei (KPdSU) nahestanden, dann jene aus dem ­Bereich der Armee und schließlich Clubs, die direkt den Geheimdienst- und Polizeibehörden unterstellt waren. Unabhängige wie zum Beispiel die jüdischen Hakoah-Sportvereine wurde ab 1923 schrittweise ver­boten. Starostin und seine Brüder gründeten den gewerkschaftsnahen »Moskauer Sportzirkel« und ge­hörten bald zu den besten und populärsten Fußballern der Union. Nikolai war nicht nur Kapitän der Mannschaft, sondern auch eine Art informeller Präsident, der den Club managte und die überlebenswichtigen Beziehungen zu Parteifunktionären pflegte.

 

Stalins Sohn ließ Starostin aus dem Lager holen und versteckte ihn in seiner Villa vor dem Geheimdienst.

 

1936 wurde der Verein in Spartak Moskau umbenannt. Zu dieser Zeit versuchte Starostin, die kommunistischen Funktionäre davon zu überzeugen, professionellen Fußball nach westeuropäischem Vorbild einzuführen. Das lehnte die Partei natürlich empört ab. Allerding nur, um in­offiziell eine Art Profisystem zu entwickeln, so dass Spitzensportler bald zu den am besten verdienenden Menschen in der Sowjetunion ge­hörten. Zugleich wuchs die Beliebtheit von Spartak Moskau und der ­regionalen Spartak-Ableger. Während die ZSKA-Vereine fast nur aus Soldaten der Roten Armee bestanden und die Dynamo-Clubs direkt dem ­Innenministerium unterstanden, galt Spartak als volksnah und relativ unabhängig von der Politik.

1938 wurde Berija Volkskommissar des Inneren und damit Leiter der ­Geheimdienste sowie informell auch oberster Herr aller Dynamo-Vereine. Er war nicht nur ein paranoider Soziopath, der die Ermordung Tausender Menschen befahl und diesen Morden oft genug persönlich beiwohnte, ­sondern ein fanatischer Fan »seiner« Mannschaften. 1939 traf Spartak Moskau im Halbfinale des Pokals der Sowjetunion auf Dynamo Tiflis und gewann. Im Finale besiegte man auch Sarja Leningrad und wähnte sich ­bereits als Meister.

Kurz darauf wurde Starostin jedoch ins Zentralkomitee bestellt, dessen Leiter der Abteilung für Agitation und Propaganda, Georgij Alexandrow, ihm eröffnete, dass das Spiel gegen Dynamo Tiflis wiederholt werden müsse.

Nikolai lehnte empört ab. »Eine Wiederholung des Halbfinales nach dem Finale, das hat es auf der ganzen Welt noch nicht gegeben«, erklärte er Alexandrow kühl. Doch der Apparat ließ nicht locker. Einen Tag später rief der Moskauer Stadtparteichef bei Starostin an und bekniete ihn, nachzugeben: »Das Spiel muss wiederholt werden. Dies ist von äußerster Wichtigkeit. Verstehen Sie mich?« Starostin verstand und so begegneten sich Spartak Moskau und Dynamo Tiflis erneut auf dem Rasen. Berija saß in der Regierungsloge und wartete auf die, so meinte er, vereinbarte Niederlage Spartaks. Als Spartak-Stürmer Georgi Glaskow gegen Ende der zweiten Halbzeit das 3:0 schoss, sprang Beria auf und zertrümmerte vor Wut seinen Stuhl. Von nun an stand Starostin auf ­Berijas Abschussliste und entkam der unmittelbaren Verhaftung und Erschießung nur, weil seine Tochter die beste Freundin der Tochter von Außenminister Wjatscheslaw Molotow war und er einen weiteren ­Beschützer hatte, von dem er damals noch nichts ahnte: Wassili Stalin, den Sohn des Diktators.

Ob es die guten Beziehungen waren, die Starostin zu Teilen der Nomenklatura unterhielt, oder doch Stalin junior: Zehn Jahre Arbeitslager galt als außerordentlich mildes Urteil oder, wie Starostin es später ausdrückte: »Das glich unter den damaligen Verhältnissen einem Freispruch.« Im Gulag hatte Starostin erneut Glück, denn die Kommandanten der Lager, in die er kam, waren allesamt große Fußballfans, die ihn kannten und statt zu Schwerstarbeit lieber als Trainer für die Lagermannschaften einsetzten. So überlebten Starostin und seine Brüder die Haft, bis 1948 ein Anruf einging. Stalin wolle ihn sprechen, teilte man dem verdutzten Starostin mit. Es war allerdings Wassili Stalin, der versoffene, aber fußballverrückte Luftwaffen­general. Der ließ Starostin aus dem Lager holen und versteckte ihn in seiner Villa vor dem Geheimdienst. Stalin junior war dermaßen um seinen Schützling besorgt, dass er ihn anhielt, sein Bett zu teilen, ­unter dessen Kopfpolstern stets zwei geladene Revolver bereit lagen. Nach einigem Hin und Her musste sich der junge Stalin gleichwohl dem ­Apparat geschlagen geben und Starostin landete wieder in der Verbannung.

Nachdem Stalin senior einem Schlaganfall erlegen war und Berija jenes Schicksal ereilte, das er zuvor so vielen anderen bereitet hatte (die neuen Herren entledigten sich seiner mittels Genickschuss), wurden die Starostins rehabilitiert und freigelassen. Nikolai Starostin wurde ­wieder Präsident von Spartak Moskau und führte den Verein jahrzehntelang von Erfolg zu Erfolg. 1991 sorgte Starostin, inzwischen 90 Jahre alt, für einen reibungslosen Übergang seines Vereins in den Kapitalismus. Er veröffentlichte seine Memoiren, die auch auf die Zeit im Gulag eingingen, und zog sich dann aus gesundheitlichen Gründen vom aktiven ­Geschäft zurück. Nachdem er 1996 mit reifen 95 Jahren gestorben war, enthüllte man vor dem Spartak-­Stadion eine Statue der Starostin-Brüder.