In Chalchihuitán im mexikanischen Chiapas wurden Tausende Menschen durch eine bewaffnete Gruppe aus dem Nachbarbezirk vertrieben

Flucht in die Berge

Seite 2 – Aggressiver Wahlkampf

Dass die gewaltsame Vertreibung einige Monate vor den Wahlen stattfand, scheint kein Zufall zu sein. Den Vorfall ausschließlich als Folge eines Land­konflikts zwischen Chenalhó und Chalchihuitán darzustellen, greift zu kurz. Vor dem Hintergrund der Kommunalwahl im Jahr 2015 erscheint die gewaltsame Aneignung von Land als Macht­demonstration des in Chenalhó regierenden Partido Verde Ecologista de México (PVEM), der sich bei den kommenden Wahlen erneut politische ­Posten sichern will.

Die amtierende Landrätin von Che­nalhó, Rosa Pérez vom PVEM, ist umstritten. Alternative Medien warfen ihr Wahlbetrug vor und die Missachtung der »Sitten und Gebräuche« der indige­nen Gemeinden, die in der mexikanischen Verfassung gewährt werden. Der damalige Regierungssekretär des Kongresses von Chiapas, Eduardo Ramírez Aguilar (damals noch PVEM), hatte Pérez als Kandidatin des PVEM in Che­nalhó aufgestellt und damit die indigene kommunale Versammlung missachtet, die im Konsens über politische Kandidaturen entscheidet und mit der Kandidatur nicht einverstanden war. Die Kandidatur war zudem Ausdruck eines Machtkampfs zwischen dem PVEM und dem Partido Revolucionario In­s­titucional (PRI), der in Chenalhó lange Zeit regierte. Denn Ramírez hatte die Macht seiner Partei in der chiapanekischen Regierung genutzt, um sich gegen den in Chiapas dominierenden PRI durchzusetzen und seinen Parteimitgliedern Posten in den Landkreisen zu verschaffen. Die Allianz, die der PVEM vor den Wahlen aus strategischen Grün­den mit dem PRI eingegangen war, wurde kurz nach den Wahlen aufgekün­digt. Pérez‘ Wahl 2015 hatte Proteste der Anhänger des PRI provoziert. Politische Blockade und Gewalt waren die Folge. Mittlerweile koalieren beide Parteien wieder auf Landesebene.

Nicht auszuschließen ist, dass hinter den Vertreibungen auch Interessen ­eines der Drogenkartelle beziehungsweise der organisierten Kriminalität stehen, die in Chiapas (wie auch in ganz Mexiko) eng mit den Regierungspar­teien verknüpft sind.
Ende Februar mussten erneut über 700 Menschen aus dem Landkreis Aldama ebenfalls Nachbezirk von Chenalhó – vor einer bewaffneten Gruppe aus Chenalhó fliehen.

Anfang April schoss dieselbe bewaffnete Gruppe auf vertriebene Tzotziles – drei Menschen starben. Diese Gruppe soll nach Infor­ma­tionen des Menschenrechtsrechts­zentrums Verbindungen zur organisier­ten Kriminalität und zu jener Gruppe aus Chenalhó haben, die für die Vertrei­bungen vom vergangenen Jahr ver­antwortlich ist und der Landrätin Pérez nahesteht.

Dass sich die Parteien die Macht mit Gewalt nähmen, sei in Mexiko normal, sagt Nicolás. Sie lösten so auch ihre Konflikte untereinander, auf Kosten der Bevölkerung. Nach den Informationen, die dem Menschenrechtszentrum ­vorliegen, habe das Landratsamt in Che­nalhó nicht nur paramilitärische Kämpfer mit der Vertreibung beauftragt, sondern auch vermehrt Waffen an Parteianhänger des PVEM verteilt. Nicht nur bei den Vertriebenen herrscht deshalb die Angst vor wei­teren Gewaltausbrüchen in den ­Wo­chen vor und nach den für den 1. Juli geplanten Wahlen.

 

Weiterhin vertrieben

Die Angriffe und Vertreibungen forder­ten in Chalchihuitán bereits zwölf ­Todesopfer, darunter Säuglinge, Kinder und ältere Menschen, die in den notdürftigen Camps im Laufe der Wintermonate an Unterkühlung, mangelnder Ernährung und fehlender medizinischer Versorgung starben. Nach dem Mord an dem Kleinbauern im Oktober vergangenen Jahres blockierten die bewaffneten Gruppen von November bis Mitte Dezember vier Wochen lang die drei ­Zufahrtsstraßen nach Chalchihuitán und isolierten damit den Landkreis. Weder Lebensmittel noch Medikamente konnten die Gemeinden erreichen, Krankenwagen kamen nicht durch die Blockade, weitere Personen starben. Ein junger Vertriebener verübte Suizid, er hielt die Situation nicht mehr aus, ein weiterer wurde erschossen. Erst auf Druck sozialer Organisationen und nur für kurze Zeit und unzureichend schickte die Regierung Nahrungsmittel, Wasser und Ärzte in die Camps.

Zu Beginn des neuen Jahres kehrte der Großteil der Vertriebenen auf Druck der Polizei und trotz ihrer Angst in die Gemeinden zurück. Die ver­sprochenen Hilfsgüter, Entschädigungen für verlorenes Land, Häuser und Besitztümer sowie die Garantie für Sicherheit in den Gemeinden bleiben bis heute aus. An der Grenze zu Chenal­hó werden weiterhin Schüsse abgegeben. Felder, von deren Ernte die Familien abhängen, können nicht bestellt werden. Viele Vertriebene trauen sich nicht, in ihre Häuser zurückzukehren, oder haben wie Nicolás nichts mehr. Sie leben weiterhin unter prekären ­Bedingungen in den Camps.

Verzweiflung und die Wut auf die Politik sind im Laufe der Monate gewachsen. »Wir fühlen uns vergessen. Die Regierung soll die Vertreibung endlich anerkennen und den Konflikt beenden«, sagt Nicolás und betont, er wolle, dass die Mörder endlich entwaffnet und bestraft würden. Er wolle keine Almosen vom Staat, sondern ­lediglich eine Entschädigung für sein Haus und wieder auf seinem Feld arbeiten. Damit formuliert er die Hauptforderungen, die die Vertriebenen im März auf einer Pressekonferenz an die chiapanekische und mexikanische ­Regierung zum wiederholten Mal gestellt hatten. Doch die ­verantwortlichen Politikerinnen und Politiker rüh­­ren sich nicht.

Der Weg, der aus den Camps in die Hauptgemeinde Chalchihuitáns hinabführt, endet an einer der Stra­ßengabelungen, an der die bewaffnete Gruppe im November vergangenen Jahres die Zufahrtsstraßen blockierte. An der weiterführenden Straße stehen verkohlte Häuserruinen und Häuser mit groß­kalibrigen Kugeleinschlägen in den Außenwänden. Die Straße schlängelt sich an der von der Staatsbehörde gezogenen Grenze zwischen Chalchihuitán und Chenalhó entlang. Am zentralen Platz in der Hauptgemeinde ist es ruhig. Im Hintergrund erheben sich grün die Berge. Vor der in den Farben der mexikanischen Nationalfahne gestrichenen Kirche sitzen zwei Männer in traditionellen Leinengewändern und weben im Schatten der grellen Mittagssonne Stoffbeutel. Gegenüber auf dem Bordstein sitzen zwei Männer in abgenutzten Hosen mit einer zur Hälfte geleerten Schnapsflasche; Armut und ­Gewalt lassen sich so für kurze Zeit vergessen. Die Uhr des weißen Rathauses zeigt Viertel nach eins – wie immer, sie ist stehengeblieben. Versteckt am Rande des Platzes und bereits von hohem Gras umwuchert stehen zehn Holzkreuze. Auf ihnen stehen die Namen der Toten geschrieben, Opfer der gewaltsamen Vertreibung.


* Name geändert