In Chalchihuitán im mexikanischen Chiapas wurden Tausende Menschen durch eine bewaffnete Gruppe aus dem Nachbarbezirk vertrieben

Flucht in die Berge

Ende vergangenen Jahres vertrieb eine bewaffnete Gruppe aus dem Landkreis Chenalhó über 5 000 Menschen aus indigenen Gemeinden des benachbarten Landkreises Chalchihuitán in Chiapas in Südmexiko. Bis heute leben etwa 1 000 von ihnen in notdürftigen Camps unter lebensbedrohlichen Bedingungen. Die Bewaffneten handelten vermutlich im Auftrag lokaler Politiker.

An Maisfeldern entlang führt der schma­le, ungeteerte Weg steil und kur­ven­reich in die Berge des Hochlandes von Chiapas in Südmexiko. Unten erstreckt sich das Tal, in dem die Gemein­den des Landkreises Chalchihuitáns liegen. Wenige kleine Häuser mit Holzwänden und Wellblechdächern sind von oben zu sehen, ebenso Felder, auf denen die Menschen Mais und Bohnen anbauen. In den Gemeinden Chalchihu­itáns leben Kleinbauern; die Familien leben von dem, was sie selbst erzeugen. Chiapas ist der ärmste Bundesstaat­ ­Mexikos. Ein Viertel der chiapanekischen Bevölkerung ist indigen und gehört zumeist den 14 indigenen Gruppen an, die Nachfahren der Maya sind.

»Hier leben nur Indigene der Gruppe der Tzotzil«, erklärt Pfarrer Sebastián von der Pfarrei San Pablo, die in der Haupt­gemeinde von Chalchihuitán liegt. Die Pfarrei koordinierte die huma­nitäre Hilfe für die vertriebenen Menschen in den Camps. 5 000 Menschen aus indigenen Gemeinden des Landkreises Chalchihuitán wurden im Okto­ber und November vergangenen Jahres von einer bewaffneten Gruppe aus dem Nachbarbezirk Chenalhó vertrieben. Sie flohen in die Berge und errichteten notdürftige Camps. Bis heute leben etwa 1 000 weiterhin dort unter lebens­bedrohlichen Bedingungen – zwölf Menschen starben bereits. Die mittlerweile äußerst selten ankommende ­humanitäre Hilfe leisten größtenteils kirchliche und nichtstaatliche Orga­nisationen.

Der mexikanische Staat ermittelt nicht gegen die Angreifer. Die Politiker seien momentan nur mit dem Wahlkampf beschäftigt, beklagt Pfarrer Sebastián. Am 1. Juli finden in Mexiko ­allgemeine Wahlen statt. Das von Korruption und Gewalt gezeichnete Land wählt nicht nur einen neuen Präsidenten, auch im Bundesstaat Chiapas und in den Landkreisen Chalchihuitán und Chenalhó werden dann politische Posten neu besetzt.

 

Staatlich provozierter Landkonflikt

Eine halbe Stunde Fahrt von der Hauptgemeinde Chalchihuitán entfernt liegt eines der zehn informellen Flücht­lingscamps. In einiger Entfernung abseits des ungeteerten Wegs sind Plastik­planen zwischen Bäumen gespannt und auf dem Boden mit Erde festgedrückt. Sie dienen als Windschutz, ­weitere Planen fungieren als Dach. An einem offenen Feuer sitzt eine ernst blickende alte Frau, neben ihr eine junge Frau mit einem hustenden Baby auf dem Arm. Beide tragen lange Leinenkleider mit weinroten Stickereien, die traditionelle Tracht der Gegend. Zwei barfüßige Jungen lugen misstrauisch hinter den Planen hervor. Ein Mann mit kurzen grauen Haaren in staubigen Schuhen, Jeans und Woll­pullover lächelt freundlich. Nicolás* kam mit seiner Familie aus einer Gemeinde Chalchihuitáns, die 70 Einwohner zählt. Sie gehören zu den Vertrie­benen, die bereits seit Oktober in einem der zehn Camps leben. Die bewaffnete Gruppe aus Chenalhó hatte im Grenzgebiet zu Chalchihuitán Schüsse abgegeben, Häuser geplündert und in Brand gesteckt – so auch das Haus von Nicolás und seiner Familie. Er erzählt, wie sie deren Tiere, Ernte und Lebensmittel gestohlen und den Kleinbauern Samuel Luna Girón erschossen hätten, als er sein Feld an der Grenze zu Chenalhó bestellte.

Die gewaltsame Vertreibung ist die Eskalation eines Konflikts, der bereits seit 45 Jahren schwelt. Er wurde durch die staatliche Politik hervorgerufen und nie von ihr gelöst. Blickt man von den Bergen ins Tal, kann man den Fluss erkennen, der seit jeher die von den indigenen Ortschaften vereinbarte Grenze zwischen Chalchihuitán und Chenalhó darstellte. Probleme habe es damals zwischen den dort lebenden Bauern keine gegeben, berichtet Pfarrer Sebastián. Erst eine Verordnung der für die Landverteilung zuständigen Staatsbehörde brachte Unfrieden: In den siebziger Jahren wurde das Land im Grenzgebiet neu vermessen, eine Grenzlinie zwischen den beiden Bezirke gezogen. Die Behörde missachtete ­dabei die traditionelle Grenze, auf die sich die indigenen Gemeinden geei­nigt hatten, und provozierte einen Kon­flikt zwischen den Bauern. Denn beide Landkreise besaßen seitdem rechtsgültige Dokumente, die sie als Besitzer derselben Ländereien auszeichneten. Der Konflikt äußerte sich in den vergangenen Jahrzehnten unter anderem in Diebstählen und forderte vereinzelt Todesopfer auf beiden Seiten.

Derart eskaliert wie vor einigen Monaten war die Gewalt allerdings noch nie und Angriffe hatten bis dato auch nicht in solch koordinierter Form stattgefunden. Der Auslöser war vermutlich ein Gerichtsurteil, das im Dezember gefällt und in dem über die Landverteilung zwischen Chenalhó und Chalchihuitán neu entschieden werden sollte. Das Gericht ordnete eine neue Landvermessung an. Da die Re­gierung die Straftaten der Aggressoren nicht verfolgt, existieren keine stichhaltigen Informationen, wer die Gewalt­täter im Einzelnen waren. Dem mexi­ka­nischen Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé de las Casas liegen jedoch Informationen vor, nach denen es sich um eine bewaffnete Gruppe aus Chenalhó handelte, die im Auftrag der lokalen Politik gegen die Zivilbevölkerung vorgehe. Öffentlich hatten führen­de Politiker Chenalhós den Einwohnern Chalchihuitáns mit drastischen Maßnahmen gedroht, sollte das Gerichtsurteil vom Dezember zu Ungunsten Chenalhós ausfallen.

Sicher sei zudem, dass sich unter den Angreifern Mitglieder paramilitärischer Gruppen befanden, die die mexikanische Regierung Mitte der neun­ziger Jahre in Chiapas bewaffnete, um gegen die aufständische zapatistische Bewegung vorzugehen. Diese parastaat­lichen Aufstandsbekämpfungsein­heiten wurden von der Regierung nie ernsthaft entwaffnet, sind nach wie vor in Chiapas aktiv und stellen ein gro­ßes Problem dar. Fünf bewaffnete Gruppen gibt es im Landkreis Chenalhó. Sie stehen nach wie vor mit lokalen ­Politikern in enger Verbindung, um gewaltsam deren Interessen durchzusetzen.

 

Aggressiver Wahlkampf

Dass die gewaltsame Vertreibung einige Monate vor den Wahlen stattfand, scheint kein Zufall zu sein. Den Vorfall ausschließlich als Folge eines Land­konflikts zwischen Chenalhó und Chalchihuitán darzustellen, greift zu kurz. Vor dem Hintergrund der Kommunalwahl im Jahr 2015 erscheint die gewaltsame Aneignung von Land als Macht­demonstration des in Chenalhó regierenden Partido Verde Ecologista de México (PVEM), der sich bei den kommenden Wahlen erneut politische ­Posten sichern will.

Die amtierende Landrätin von Che­nalhó, Rosa Pérez vom PVEM, ist umstritten. Alternative Medien warfen ihr Wahlbetrug vor und die Missachtung der »Sitten und Gebräuche« der indige­nen Gemeinden, die in der mexikanischen Verfassung gewährt werden. Der damalige Regierungssekretär des Kongresses von Chiapas, Eduardo Ramírez Aguilar (damals noch PVEM), hatte Pérez als Kandidatin des PVEM in Che­nalhó aufgestellt und damit die indigene kommunale Versammlung missachtet, die im Konsens über politische Kandidaturen entscheidet und mit der Kandidatur nicht einverstanden war. Die Kandidatur war zudem Ausdruck eines Machtkampfs zwischen dem PVEM und dem Partido Revolucionario In­s­titucional (PRI), der in Chenalhó lange Zeit regierte. Denn Ramírez hatte die Macht seiner Partei in der chiapanekischen Regierung genutzt, um sich gegen den in Chiapas dominierenden PRI durchzusetzen und seinen Parteimitgliedern Posten in den Landkreisen zu verschaffen. Die Allianz, die der PVEM vor den Wahlen aus strategischen Grün­den mit dem PRI eingegangen war, wurde kurz nach den Wahlen aufgekün­digt. Pérez‘ Wahl 2015 hatte Proteste der Anhänger des PRI provoziert. Politische Blockade und Gewalt waren die Folge. Mittlerweile koalieren beide Parteien wieder auf Landesebene.

Nicht auszuschließen ist, dass hinter den Vertreibungen auch Interessen ­eines der Drogenkartelle beziehungsweise der organisierten Kriminalität stehen, die in Chiapas (wie auch in ganz Mexiko) eng mit den Regierungspar­teien verknüpft sind.
Ende Februar mussten erneut über 700 Menschen aus dem Landkreis Aldama ebenfalls Nachbezirk von Chenalhó – vor einer bewaffneten Gruppe aus Chenalhó fliehen.

Anfang April schoss dieselbe bewaffnete Gruppe auf vertriebene Tzotziles – drei Menschen starben. Diese Gruppe soll nach Infor­ma­tionen des Menschenrechtsrechts­zentrums Verbindungen zur organisier­ten Kriminalität und zu jener Gruppe aus Chenalhó haben, die für die Vertrei­bungen vom vergangenen Jahr ver­antwortlich ist und der Landrätin Pérez nahesteht.

Dass sich die Parteien die Macht mit Gewalt nähmen, sei in Mexiko normal, sagt Nicolás. Sie lösten so auch ihre Konflikte untereinander, auf Kosten der Bevölkerung. Nach den Informationen, die dem Menschenrechtszentrum ­vorliegen, habe das Landratsamt in Che­nalhó nicht nur paramilitärische Kämpfer mit der Vertreibung beauftragt, sondern auch vermehrt Waffen an Parteianhänger des PVEM verteilt. Nicht nur bei den Vertriebenen herrscht deshalb die Angst vor wei­teren Gewaltausbrüchen in den ­Wo­chen vor und nach den für den 1. Juli geplanten Wahlen.

 

Weiterhin vertrieben

Die Angriffe und Vertreibungen forder­ten in Chalchihuitán bereits zwölf ­Todesopfer, darunter Säuglinge, Kinder und ältere Menschen, die in den notdürftigen Camps im Laufe der Wintermonate an Unterkühlung, mangelnder Ernährung und fehlender medizinischer Versorgung starben. Nach dem Mord an dem Kleinbauern im Oktober vergangenen Jahres blockierten die bewaffneten Gruppen von November bis Mitte Dezember vier Wochen lang die drei ­Zufahrtsstraßen nach Chalchihuitán und isolierten damit den Landkreis. Weder Lebensmittel noch Medikamente konnten die Gemeinden erreichen, Krankenwagen kamen nicht durch die Blockade, weitere Personen starben. Ein junger Vertriebener verübte Suizid, er hielt die Situation nicht mehr aus, ein weiterer wurde erschossen. Erst auf Druck sozialer Organisationen und nur für kurze Zeit und unzureichend schickte die Regierung Nahrungsmittel, Wasser und Ärzte in die Camps.

Zu Beginn des neuen Jahres kehrte der Großteil der Vertriebenen auf Druck der Polizei und trotz ihrer Angst in die Gemeinden zurück. Die ver­sprochenen Hilfsgüter, Entschädigungen für verlorenes Land, Häuser und Besitztümer sowie die Garantie für Sicherheit in den Gemeinden bleiben bis heute aus. An der Grenze zu Chenal­hó werden weiterhin Schüsse abgegeben. Felder, von deren Ernte die Familien abhängen, können nicht bestellt werden. Viele Vertriebene trauen sich nicht, in ihre Häuser zurückzukehren, oder haben wie Nicolás nichts mehr. Sie leben weiterhin unter prekären ­Bedingungen in den Camps.

Verzweiflung und die Wut auf die Politik sind im Laufe der Monate gewachsen. »Wir fühlen uns vergessen. Die Regierung soll die Vertreibung endlich anerkennen und den Konflikt beenden«, sagt Nicolás und betont, er wolle, dass die Mörder endlich entwaffnet und bestraft würden. Er wolle keine Almosen vom Staat, sondern ­lediglich eine Entschädigung für sein Haus und wieder auf seinem Feld arbeiten. Damit formuliert er die Hauptforderungen, die die Vertriebenen im März auf einer Pressekonferenz an die chiapanekische und mexikanische ­Regierung zum wiederholten Mal gestellt hatten. Doch die ­verantwortlichen Politikerinnen und Politiker rüh­­ren sich nicht.

Der Weg, der aus den Camps in die Hauptgemeinde Chalchihuitáns hinabführt, endet an einer der Stra­ßengabelungen, an der die bewaffnete Gruppe im November vergangenen Jahres die Zufahrtsstraßen blockierte. An der weiterführenden Straße stehen verkohlte Häuserruinen und Häuser mit groß­kalibrigen Kugeleinschlägen in den Außenwänden. Die Straße schlängelt sich an der von der Staatsbehörde gezogenen Grenze zwischen Chalchihuitán und Chenalhó entlang. Am zentralen Platz in der Hauptgemeinde ist es ruhig. Im Hintergrund erheben sich grün die Berge. Vor der in den Farben der mexikanischen Nationalfahne gestrichenen Kirche sitzen zwei Männer in traditionellen Leinengewändern und weben im Schatten der grellen Mittagssonne Stoffbeutel. Gegenüber auf dem Bordstein sitzen zwei Männer in abgenutzten Hosen mit einer zur Hälfte geleerten Schnapsflasche; Armut und ­Gewalt lassen sich so für kurze Zeit vergessen. Die Uhr des weißen Rathauses zeigt Viertel nach eins – wie immer, sie ist stehengeblieben. Versteckt am Rande des Platzes und bereits von hohem Gras umwuchert stehen zehn Holzkreuze. Auf ihnen stehen die Namen der Toten geschrieben, Opfer der gewaltsamen Vertreibung.


* Name geändert