Die Geschichte des Berliner Kurfürstendamm

Im Keller brennt noch Licht

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An diese Geschichte, insbesondere an die Verbindung der jüdischen Bewohner mit der Unterhaltungs- und Alltagskultur der Weimarer Republik, wurde bei der Neugestaltung des Ku’damms in der alten Bundesrepublik angeknüpft. Dass 1959 an der Stelle der Ruine der Synagoge an der Fasanenstraße, die 1905 als erste Sy­nagoge im Westen Berlins gegründet und während der Novemberpogrome 1938 in Brand gesteckt worden war, das Jüdische Gemeindehaus ­errichtet wurde, in dessen Stahlbetonkonstruktion Fragmente des zerstörten alten Baus eingelassen sind, war symptomatisch für die gebrochene Weise, in der jüdische Traditionen des Viertels aufgegriffen wurden. Eine Wiederherstellung jüdischen Alltags, wie sie der Bau einer neuen Synagoge an alter Stelle symbolisiert hätte, war unmöglich, doch Verbindungen zwischen jüdischem und Berliner Alltag fragmentarisch zu evozieren, schien denkbar und entsprach dem Primat der Westernisierung. Das galt besonders für das Kulturleben. In die Räume des 1946 neu aufgebauten Theaters am Kurfürstendamm zog 1949 die Freie Volksbühne ein, die ehemaligen Emigranten wie Erwin Piscator, Giorgio Strehler, Tilla Du­rieux und Therese Giehse eine Bühne bot, um an Schauspieltraditionen der Weimarer Republik anzuknüpfen. An der Freien Volksbühne wurde auch – vor allem mit Wolfgang Neuss – ein neues, nicht partout auf Popularität schielendes Kabarett etabliert, von dem heute nicht einmal mehr Spuren übrig sind.
Dass Schauspieler wie Harald Juhnke, Günter Pfitzmann und Brigitte Mira, die dem Gegenwartsgeschmack als Vertreter eines provinziellen Berliner Volkstheaters gelten, am Ku’damm früher mit jüdischen Remigranten zusammengearbeitet haben, ist kaum mehr gegenwärtig. 1965 zog das von Neuss, Wolfgang Spier und anderen Akteuren aus dem Umfeld der Freien Volksbühne geprägte ­Kabarett »Die Stachelschweine«, das vorher in der Kneipe »Ewige Lampe« an der Rankestraße untergebracht war, in das neu eröffnete Europa-Center, das, obwohl sich auf ihm der Mercedes-Stern drehte, weniger als Gunstbeweis an die Volkswirtschaft denn als Zitat amerikanischer Hochhausarchitektur konzipiert worden war. Ganz in der Nähe, am Wittenbergplatz, veranstaltet die 1966 gegründete Deutsch-Israelische Gesellschaft heute noch immer ihren »Israeltag«, in unmittelbarer Nachbarschaft zum Kaufhaus des Westens, das 2015 mit seiner später zurückgenommenen Entscheidung, israelische Produkte aus dem Sortiment zu nehmen, wohl vor allem deshalb öffentliches Aufsehen erregte, weil es in der alten Bundesrepublik als Schaufenster der Politik der Westbindung und als dezidiert israelfreundlich galt.

1967, zwei Jahre nach der Eröffnung des Europa-Centers, gründete der Anfang der Fünfziger über Paris aus Israel nach Westberlin zurückgekehrte Rolf Eden in Nachfolge des Nachtclubs New Eden die Diskothek Big Eden am Kurfürstendamm. Eden, der als Jugendlicher im ersten arabisch-israelischen Krieg mit Yitzhak Rabin gekämpft und sich in Paris als Chauffeur und Kellner durchgeschlagen hatte, arbeitete in Berlin als Staubsaugervertreter, bevor er mit Nachtclubs und Disko­theken ein Vermögen machte. Ebenso wenig wie das Theater am Kurfürstendamm oder das Kaufhaus des Westens wurden Edens Etablissements als Teile der jüdischen Remigrationsgeschichte und des jüdischen Alltags im Berliner Westen wahrgenommen, obwohl sie es objektiv waren. Doch gerade, dass diese Orte weder als Bestandteil eines jüdischen Erbes der Stadt reklamiert noch erinnerungspolitisch instrumentalisiert wurden, dass der jüdische Aspekt ihrer Geschichte vielmehr sogar im Alltagsbewusstsein der jüdischen Bevölkerung längst verblasst war, verlieh dem in ihnen sedimentierten Gedächtnis in gewisser Weise mehr Lebendigkeit als offiziellen Erinnerungsorten. Zu­gute kam dieser Konstellation, dass es in den fünfziger Jahren gelungen war, rund um den Ku’damm ein Stadtviertel entstehen zu lassen, in dem Amüsement und Konsum, Wohnungen und Geschäfte ineinander übergingen, so dass Einheimische und Fremde, Touristen und Nachbarschaft sich häufiger und selbstverständ­licher begegneten als in anderen Bezirken.

In solchem Ineinander von Urbanität und Nachbarschaft lebte auch eine spezifisch Berlinerische Variante des Provinzialismus fort, die das Ku’damm-Viertel im Zuge der Aufnordung Berlins zur weltoffenen Hauptstadt nach dem Mauerfall als bieder und zurückgeblieben erschienen ließ. Die linke Jugend und die hippen Zuzügler umgingen schon in den neunziger Jahren mit weltgeistigem Instinkt die (deshalb noch heute lebenswerten) Bezirke Charlottenburg, Schöneberg und Tiergarten und setzten sich östlich des alten Westens, in Neukölln und Kreuzberg, fest. Während diese Quartiere dank der neuen Mischung linker, ökologischer und islamischer Milieus inzwischen für Juden teils lebensgefährlich sind, fiel der jüdische Alltag im alten Westen, den es (vor allem in Teilen von Schöneberg und Charlottenburg) immer noch gibt, zusammen mit dem Ku’damm dem Vergessen anheim. Während man mit der alten Mitte um Friedrichstraße und Unter den Linden genau jene Viertel weltstädtisch polierte, die den Nationalsozialisten als urbane Schaufenster des »Dritten Reichs« gedient hatten, wurde das von den Nazis verachtete westliche Zentrum erneut vernachlässigt. Damit wurde auch die Zivilisierungsgeschichte, die sich in der alten Bundesrepublik durch Aufwertung des Ku’damm-Viertels vollzogen hatte, zurückgenommen.

Dass nun seit einigen Jahren um den Breitscheidplatz neue Hochhäuser und elegante Locations entstehen, bedeutet keine Revision, sondern eine Radikalisierung dieser Vernachlässigung. Wenn das Theater und die Komödie am Kurfürstendamm, wie seit längerem geplant, erst wirklich unter die Erde verlegt worden sind, werden die letzten Lichtblicke urbaner Liberalität aus dem Alltag des alten Westens verschwunden sein. Stattdessen wird sich der Ku’damm architektonisch und infrastrukturell kaum von der Ödnis unterscheiden, die den Potsdamer Platz seit seiner Neugestaltung beherrscht: kalte, teure, hässliche Bars, überdimensionierte Malls und dazwischen leere, tote, unbewohnbare Fläche, die von Menschen allenfalls im Laufschritt durchquert, aber nicht belebt werden kann. Wer trotzdem eine Ahnung davon bekommen möchte, wie es früher um den Ku’damm herum aussah, wird auf die Seitenstraßen ausweichen müssen – etwa, um die Reste des ehemaligen Rotlichtviertels am Stuttgarter Platz aufzuspüren, die Piefigkeit der Fußgängerzone in der Wilmersdorfer Straße zu genießen, die wirkt, als hätten die Achtziger nie aufgehört, oder eines der asiatischen Restaurants entlang der Kantstraße zu besuchen, dem einzigen Ort Berlins, der wenigstens entfernt mit der internationalen Gastronomie von New York oder London konkurrieren kann. Der Fortschritt aber, den der Berliner Westen in der alten Bundesrepublik verkörperte, hat sich längst ebenso aus der Stadt verzogen wie die Spuren von Phantasie und Esprit aus den Köpfen ihrer pseudokosmopolitischen Bevölkerung.