Die Jazzszene in London lebt und wächst

London’s still swinging

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Es drängen sich musikalische ­Parallelen zu den jüngeren Entwicklungen in Los Angeles in der Szene um den Produzenten und DJ Flying Lotus und auf seinem Label Brainfeeder vertretene Künstler wie Thundercat, Kamasi Washington oder Ras G auf. Vor allem teilen beide Szenen eine Auffassung von Jazz, die für andere Genres offen ist. »The Balance«, Boyds Beitrag zum Sampler, eröffnet ein nervöses Spiel mit Referenzen auf Ambient, Elektronica und Drum & Bass. Deutlich lässt sich der Einfluss britischer Clubkultur in seinem Spiel erkennen. Es ist roh und körperlich, beinahe so, als könne man im Sound der Drums die Anspannung der Sehnen hören, die den Körper in Bewegung versetzen. Eine Anspannung, die sich mit den ersten, unvermittelt herunterdonnernden Tönen aus Nubiya Garcias Saxophon beinahe eruptionsartig entlädt und den gesamten Track in kosmische Sphären hebt.

Beide Musiker sind auch auf »Brock­ley«, einem Titel des Tubisten Theon Cross vertreten, dessen Melodielinie in ihrer knarzenden Schwerfälligkeit jedem Acid-Track in nichts nachsteht. Cross wiederum ist Teil des ­irgendwo zwischen Fela Kuti, Sun Ra und Madlib angesiedelten Ezra Coll­ective, dessen erste EP »Juan Pablo: The Philosopher« Ende vergangenen Jahres erschien. Darauf zu finden: Ein großartig zwischen überreizt dahinrasenden Drums und fast medi­tativer Versenkung balancierendes Cover von Sun Ras »Space Is the Place«. Neben Cross spielt darauf auch Joe-Armon Jones, dessen schillerndes Pianospiel viel Wärme aus Soul, R & B und Funk schöpft und damit jene Ebene der Konsistenz schafft, auf der sich sämtliche solis­tische Eskapaden, sei es in Polyrhythmik oder freier Improvisation, immer wieder begegnen.

Ist Identität nicht immer schon Komposition, wesentlich Vielheit, nicht Einheit, und mithin die Frage nach so etwas wie kultureller Essenz von vornherein falsch gestellt?

Der musikalische Referenzrahmen, den der Sampler aufruft, verdeutlicht bereits, was das auf den ersten Blick eigenwillig anmutende Verständnis von Jazz innerhalb der Szene ausmacht. Musikalisch wird sich hier mit erstaunlicher Eleganz und Leichtfüßigkeit durch die vergan­genen 60 Jahre vor allem schwarzer Popmusik, sowohl dies- als auch jenseits des black atlantic, wie ihn der Kulturwissenschaftler Paul Gilroy einst taufte, bewegt. Dabei ist der Zugang zum Material geprägt von einem erfrischend undogmatischen Eklektizismus. Wie selbstverständlich finden sich hier Einflüsse aus Space Jazz und Spiritual Jazz à la Sun Ra, Herbie Hancock und John be­ziehungsweise Alice Coltrane neben Versatzstücken aus HipHop, Funk und technoideren Genres wie House oder Drum & Bass wieder.

Im Beiklang wird zudem vor allem eines deutlich: Die eigentliche Musik spielt abseits der Musik. Das Verweben, Gegeneinanderstellen und Abwägen all dieser Einflüsse und Stile ist auch Ausdruck einer Suche nach Identität. Dass die sich insbesondere in einer Einwanderungsgesellschaft wie Großbritannien immer schwieriger definieren lässt und – sofern sie auf vermeintlich kulturelle Eigenheiten bestimmter Bevölkerungsgruppen zielt – zugleich häufiger zum Leitmotiv rassistisch motivierter Konflikte wird, ist keine Neuigkeit. Was dieses Verständnis von Jazz im Gegenzug anbietet, stellt Identität viel eher in Frage, als sie vorauszu­setzen. Wie emblematisch für dieses Unterfangen steht Zara McFarlanes jüngstes Album »Arise«, das Ende vergangenen Jahres auf Brownswood erschien. Darauf beschäftigt sich die Sängerin mit ihrer karibischen Herkunft: Mal ganz direkt im Roots Reggae, unter anderem mit einem unglaublich einfühlsamen Cover des Congos-Klassikers »Fisherman«; häufiger jedoch sind es aus Jamaika überlieferte Rhythmen, die – wie auf »Ode to Kumina« – mitunter religiösen Kontexten entstammen und hier ganz unvermittelt auf die wesentlich loseren Strukturen des Jazz treffen.

»It kind of came out of the idea of black history and blackness and feeling like you’re trying to find yourself«, heißt es im Kommentar zur Platte. Hier wirft die Musik eine Frage auf, die bereits den karibisch-bri­tischen Kulturtheoretiker Stuart Hall zeitlebens umtrieb: Ist Identität nicht immer schon Komposition, wesentlich Vielheit, nicht Einheit, und mithin die Frage nach so etwas wie kultureller Essenz von vornherein falsch gestellt? Vielleicht offenbart die krampfhafte Fixierung auf sie vielmehr die »Colonial Mentality«, um es mit einem Titel des Ezra Coll­ective zu fassen. Dementgegen verbirgt sich die Stärke einer antiessentialistischen Auffassung von Kultur, wie sie der französische Philosoph Francois Jullien vor kurzem in einem Essay zur kulturellen Identität formulierte, gerade in der Eröffnung von Zwischenräumen oder ­Distanzen – Räumen also, die Platz für Kommunikation, Verhandlung und durchaus auch Uneinigkeit schaffen.

Dieses Verständnis von Jazz ist also eines, das die riesige Spannweite kultureller Erzeugnisse samt aller innewohnenden Widersprüche auszudrücken versucht. Und diesen Jazz kann es wohl nur in Metropolen wie Los Angeles oder eben London geben, in denen Menschen mit unterschiedlicher Herkunft in der Enge des urbanen Raums notgedrungen aufeinandertreffen, um sich mal mehr, mal minder gewaltsam miteinander auseinanderzusetzen. Jazz wird in diesem Zusammenhang auch abseits der Musik zur Bewältigungsstrategie dieses aufgeheizten Alltags.

Weitere fünf Autominuten entfernt, im Stadtteil Stoke Newington, befindet sich der dritte Gravitationspunkt, um den die Szene kreist: Worldwide FM. Die Existenz der erst seit knapp zwei Jahren existierenden Plattform ist einmal mehr Gilles Petersons ans Pathologische grenzendem Enthusiasmus zu verdanken, der diesen Radiosender nicht zuletzt als konsequente Erweiterung des selbstauferlegten Auftrags konzipierte, dieser mitunter doch einiger­maßen sperrigen Musik Gehör zu verschaffen. Fast beiläufig reiht sich das Projekt mit dieser Intention in eine bis in die sechziger Jahre zurückreichende Tradition der Piratensender (kleine Sender, die zunächst auf Kurz- und Mittelwelle von Schiffen außerhalb der britischen Hoheitsgewässer sendeten) ein, über die Popmusik überhaupt erst Einzug ins staatlich geförderte Radioprogramm erhielt, nämlich durch die sukzessive schwindende Hörerschaft der alten BBC, die sich daraufhin neu organisierte und BBC1 bis BBC6 schuf. Sender wie »Voice Of Africa Radio« gaben insbesondere der afrikanisch-karibischen Diaspora in London die Möglichkeit, sich abseits der öffentlich-rechtlichen Kanäle über für sie relevante Themen zu informieren.

Neben Petersons – an die »John Peel Sessions« angelehnten – »Browns­wood Basement Sessions« hat auch Shabaka Hutchings eine eigene monatliche Sendereihe auf Worldwide FM. Der 1984 in London geborene und auf Barbados aufgewachsene Saxophonist und Klarinettist ist derzeit das wohl prominenteste Gesicht der Szene. Er spielt auf einem nicht unbeträchtlichen Anteil der Veröffentlichungen, die aus der Szene stammen. Bisweilen ist er Mitglied des sich irgendwo zwischen Post Punk, Hard Bop, Afrobeat und, nun ja, Krach verortenden Kollektivs Melt Yourself Down und leitet zudem drei weitere Projekte: Shabaka & The Elders, The Comet Is Coming und Sons Of Kemet. Mit letzterem hat er kürzlich ein neues Album auf Impulse Records veröffentlicht, jenem ­sagenumwobenen Plattenlabel, das vor mehr als einem halben Jahrhundert John Coltrane, Charles Mingus und Pharaoh Sanders zu Bekanntheit verhalf, das den Titel »Your Queen Is a Reptile« trägt und in jedem Track eine schwarze Aktivistin würdigt, darunter Angela Davis, Anna Julia Cooper und Harriet Tubman.

Inspiration für den Titel fand Hutchings auch in einem Zitat von Sun Ra, das sich auf das Verhältnis von Mythos und Unterdrückung bezog: Das Erste, was Menschen im Zuge ihrer Unterjochung verlören, sei die Fähigkeit, sich eigene Mythen zu entwerfen. Zugleich operiere das System der Unterdrückung jedoch selbst im Rahmen mythologischen Denkens. In Großbritannien ist es vor allem der Mythos des hereditary privilege, des durch Geburt in eine aristokratische Klasse hinein vermittelten Anrechts auf soziale Vorrangstellung, den Hutchings in Frage stellen will. Dafür erfindet er gewissermaßen Gegenmythologien, die die willkürliche Natur dieser Gedanken ausstellen. Hier scheint ein Hang zur theoretischen Reflexion der eigenen Lebensrealität durch: Hutchings Beitrag zum Sampler »We Out Here« mit dem Titel »Black Skin, Black Masks« verweist im Titel auf eine Schrift des martinikanischen Psychaters Frantz Fanon, nämlich »Black Skin, White Masks«, der darin die Auswirkungen der Kolonial­sprache auf die Psyche der Kolonisierten untersuchte. Mit dieser Überlegung im Hinterkopf ließe sich dieser Jazz vielleicht auch als eine Art musikalischer Sprache verstehen, die ein Projekt vorantreibt, das der kenianische Schriftsteller Ngūgī wa Thiong’o einst »Decolonizing the Mind« nannte. Dann wäre dieser Jazz auch der emanzipatorische Versuch, eine Musik zu entwickeln, die Bewusstsein schafft für Ungerechtigkeiten.