Nazis haben in Salzwedel ein alternatives Jugendzentrum überfallen

Einzeltäter mit Gruppenanschluss

In der sachsen-anhaltinischen Kleinstadt Salzwedel griffen mutmaßliche Neonazis kürzlich das autonome Zentrum »Kim Hubert« an. Die Polizei möchte nicht von »einer organisierten Nazistruktur« in der Stadt sprechen. Vorfälle in der Vergangenheit legen jedoch eine andere Einschätzung der Lage nahe.

Auf den ersten Blick wirkt Salzwedel mit seinen 24 000  Einwohnern ganz ­beschaulich. Doch der Schein trügt: Immer wieder trat das rechtsextreme ­Milieu in der Stadt im Norden Sachsen-Anhalts in Erscheinung. So auch in der Nacht auf den 5. Juni, als eine Gruppe mutmaßlicher Neonazis das auto­nome Zentrum (AZ) »Kim Hubert« attackierte.

In einer Pressemitteilung schildern die Betreiber des Zentrums die Geschehnisse jener Nacht. Demnach drang um kurz nach Mitternacht eine Gruppe von etwa zehn bewaffneten und vermummten Personen in das AZ ein, begab sich gezielt in die zweite Etage und attackierte die dort Übernachtenden mit Pfefferspray. Die Angreifer zerstörten der Pressemitteilung zufolge gezielt Einrichtungsgegenstände und Fenster. ­Fotos der »Antifaschistischen Aktion Salzwedel«, die die Schäden dokumentieren, zeigen zerschlagene Scheiben und zudem eine verkohlte Rauch­bombe, die die Täter auf der Flucht zündeten.

Ein derartiger Überfall bedeute »eine neue Qualität rechter Gewalt« und setze »eine massive kriminelle Energie, eine gezielte Planung und große Brutalität voraus«, schreibt das AZ in einer Pressemitteilung. Es wertet den Angriff als eine Reaktion auf einen »antifaschistischen Stadtrundgang« Mitte Mai, dessen Teilnehmer eigenen Angaben zufolge mit der Gruppe »Rotz­freche Asphaltkultur« vor Treffpunkten und Wohnungen ortsansässiger Nazis sangen und musizierten. Hierbei ereignete sich ein gravierender Vorfall: ­Einem Bericht der Tageszeitung Neues Deutschland zufolge fuhr eine Person mit einem Auto in den linken Protestzug, Augenzeugen ordneten den Fahrer des Wagens dem rechtsextremen ­Milieu zu. Ein Video zeigt, wie dieser Mann dann beim erneuten Anfahren ein Transparent ergreift und einen Träger des Banners mitreißt. Dieser klammert sich am Heck des beschleunigenden Autos fest und zieht sich eine Verletzung am Bein zu, als der Wagen nach ungefähr 50 Metern erneut zum Stehen kommt.

Wiederholt machten Rechtsextreme im Raum Salzwedel von sich reden, teils wurde überregional über die Vorfälle berichtet. Anfang 2013 verwüsteten Unbekannte eine nahegelegene Gedenkstätte für ermordete KZ-Häftlinge und legten dabei herausgerissene Grabsteine zu einem Hakenkreuz zusammen. Im Oktober desselben Jahres überzogen Unbekannte die Salzwedeler ­Innenstadt mit Dutzenden rechtsextremen Symbolen und Parolen. Für Schlagzeilen sorgte auch der Salzwedeler Fabian M., der einen Kameramann am Rande einer AfD-Demonstration in Magdeburg am 27. Januar 2016 mit Pfefferspray attackierte.

Die Betreiber des AZ »Kim Hubert« verweisen auf weitere einschlägige Vorfälle: Im Februar 2010 stürmte eine Gruppe Vermummter während einer antifaschistischen Informationsveranstaltung zum Naziaufmarsch in ­Dresden den »Infoladen« des Zentrums, 2011 und 2016 wurde das AZ zum Ziel von Brandanschlägen. Nach dem jüngsten Angriff bat das AZ dringend um Unterstützung. »Wir schaffen das nicht alleine«, heißt es in dem Aufruf. Er wendet sich beispielsweise an antifaschistische Musiker sowie solidarische Gruppen und Einzelpersonen und bittet um Spenden, größere öffent­liche Aufmerksamkeit und aktive Hilfe.

Das Polizeirevier Altmarkkreis Salzwedel bittet Zeugen des jüngsten Angriffs darum, sich zu melden. Man habe von Amts wegen ein Verfahren eröffnet und Ermittlungen wegen Körperverletzung und ­Sachbeschädigung aufgenommen, so die Polizei. »Im Polizeirevier AK Salz­wedel sind keine Anzeigen seitens Geschädigter eingegangen«, ist weiter zu lesen. Dem Neuen Deutschland sagte ein Polizeisprecher, dass in Salzwedel nicht von »einer organisierten Nazistruktur« gesprochen werden könne, gewalt­bereite Neonazis seien als Einzeltäter zu werten.

 

In einer weiteren Pressemitteilung nahmen die Betroffenen in der ver­gangenen Woche Stellung zu den Entwicklungen und den Aussagen der ­Polizei: Sie hätten als Trägerverein »Kultur und Courage e. V.« entgegen den ­Behauptungen der Polizei sehr wohl über einen Rechtsanwalt Strafanzeige gestellt. Zudem kritisieren sie den Umgang der Stadt mit dem Vorfall und das Ausbleiben einer Positionierung ­»gegen die aktuell anhaltende rechte Gewalt«. Nach den großflächigen ­Nazischmierereien im Oktober 2013 habe es einen »breiten Aufschrei in der Stadt und Positionierungen gegen die Nazis« gegeben, derzeit aber herrsche »Schweigen beim Großteil der Politik und der jetzigen Oberbürgermei­sterin«, heißt es in dem Schreiben. »Die Stadt bewegt sich überhaupt nicht«, sagte eine Frau, die sich im AZ engagiert, der Jungle World. Es entstehe der Eindruck, man wolle den Vorfall lieber totschweigen.

Zudem haben die Angegriffenen wenig Verständnis für die Aussage der ­Polizei, in Salzwedel gebe es kein organisiertes rechtsextremes Milieu. ­»Nazis aus Salzwedel und anderen Städten der Altmark« seien gemeinsam auf Aufmärschen anzutreffen und machten auch weiterhin Jagd auf politisch Andersdenkende, heißt es in der Pressemitteilung.

Der AfD im Landtag von Sachsen-­Anhalt werfen die Betreiber des AZ angesichts wiederholter Warnungen der Partei vor »linkem Terror« in der Stellungnahme eine »Täter-Opfer-Umkehr« vor. Auch André Poggenburg, der frühere Fraktionsvorsitzende der AfD im Landtag und prominentes Mitglied des völkischen Parteiflügels, warnt vor der »kriminellen und terroristischen Energie« des linken Milieus in Deutschland und ist bezeichnenderweise Vor­sitzender einer Enquete-Kommission des Landtags, die den »Linksextre­mismus« in Sachsen-Anhalt untersuchen soll. Viele Abgeordnete der regierenden CDU hatten im August 2017 für den AfD-Antrag gestimmt, die Kommission einzusetzen. Allerdings ist die Zahl rechtsextremer Straftaten in dem Bundesland deutlich höher als die der als linksextrem erfassten Straftaten. Deshalb wies Thomas Kliche, Politikpsychologe an der Hochschule Magdeburg-Stendal, darauf hin, dass die AfD mit der Kommission auf »Rufmord an Organisationen« abziele, die sich »für Zivilgesellschaft eingesetzt haben und Ausgrenzung entgegengetreten sind«.

Das wird auch angesichts eines »Sachverständigen« deutlich, den Poggenburg in die Kommission eingeladen hat: Christian Jung ist Mitautor des Buches »Der Links-Staat«, in dem die Autoren nach »jahrelangen und aufwendigen Recherchen präsentieren«, wie die »linksextreme Antifa« erhebliche »Unterstützung durch den Staat, ­sowohl finanziell als auch logistisch«, erfahre – und »das alles finanziert mit Steuergeldern und verdeckten Kapitaltransfers«.