Flüchtlinge, sexuelle Gewalt und die Tücken der Kriminalitätsstatistik

Die Zahlen des Patriarchalen

Der Anteil von Flüchtlingen und Migranten am Ausmaß von Gewalt gegen Frauen in Deutschland beschäftigt die Öffentlichkeit mit jedem Fall aufs Neue. Kriminalstatistiken liefern jedoch nur erste Anhaltspunkte.

Ein Schnellrestaurant am Berliner Hardenbergplatz in der Nacht zum Sonntag: Eine Gruppe junger Männer beleidigte in arabischer Sprache eine 18jäh­rige »auf sexueller Grundlage«, wie es im Polizeibericht heißt. Da die junge Frau Arabisch versteht, kam es zum Streit, vor dessen Eskalation sie mit ihrem 23jährigen Begleiter auf die Straße flüchtete. Die Gruppe verfolgte die beiden, wuchs in kurzer Zeit auf 30 Personen an und griff die Frau und den Mann schließlich mit Stühlen und Flaschen an. Die 18jährige ging bewusstlos zu Boden, nachdem eine Flasche ihren Hinterkopf getroffen hatte. Die Polizei zerstreute die »unüberschaubare aggressive Menschenmenge« und nahm drei Verdächtige fest.

Solche und schlimmere Fälle von Gewalt und vor allem sexueller Gewalt gegen Frauen, ausgehend von Flüchtlingen und anderen, beschäftigen die deutsche Öffentlichkeit. Nachdem Anfang Juni ein irakischer Flüchtling in Wiesbaden mutmaßlich eine 14jährige vergewaltigt und ermordet hatte, meldete sich Susanne Schröter, Ethnologieprofessorin und Leiterin des Frankfurter Forschungszentrums Globaler Islam, zu Wort. »Längst geht es nicht mehr ausschließlich um Einzelfälle«, schrieb sie in ihrem in mehreren Zeitungen veröffentlichten Beitrag und fragte, ob »die frauenverachtenden Verbrechen mit kulturellen Prägungen der Täter oder mit gewaltlegitimierenden Normen ihrer Herkunftskontexte erklärt werden können«. Sie verwies unter anderem auf die ebenfalls von Flüchtlingen begangenen Frauenmorde in Kandel und Freiburg.

Diesen und weiteren Fällen sexueller Gewalt war die Kölner Silvesternacht 2015 vorausgegangen, in deren Verlauf Angaben des Bundeskriminalamts (BKA) zufolge in der Gegend um den Hauptbahnhof der Stadt etwa 650 Frauen Opfer von Sexualdelikten geworden waren. Die Polizei ermittelte 183 Verdächtige, von denen 55 marokkanische, 53 algerische, 22 irakische, 14 syrische und 14 deutsche Staatsangehörige waren. Seither brodelt eine Debatte, die von jedem Fall aufs Neue angeheizt wird. Sie kreist um eine Frage, die die FAZ, wie viele andere Medien in ähn­licher Weise, zur Schlagzeile machte: »Begehen Flüchtlinge mehr Sexualstraftaten?«

Fast 40 Prozent aller Zuwanderer sind Männer bis 30 Jahren. Weltweit tauchen gerade Männer im Alter von 18 bis 30 Jahren verstärkt in Kriminalstatistiken auf.

Die vor kurzem erschienene Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) für das Jahr 2017 nennt bei den Delikten »Vergewaltigung und sexuelle Nötigung/Übergriffe« insgesamt 9 414 Tatverdächtige, das Verhältnis von deutschen zu nichtdeutschen beträgt 5 931 zu 3 483. 2016 lag die Zahl der Verdächtigen noch bei 6476, mit einem Verhältnis von 3964 deutschen zu 2 512 nichtdeutschen. Der deutliche Anstieg von 2016 zu 2017 ist jedoch schwerlich allein mit Zuwanderung und der Aufnahme von Flüchtlingen erklärbar, da deren Zahl 2017 deutlich abgenommen hatte. In dem Jahr wurde eine Reform des ­Sexualstrafrechts verabschiedet, die bekannt wurde als »Nein heißt nein«-­Regelung. Zur Erfüllung des Straftatbestandes der Vergewaltigung muss seither keine unmittelbare Drohung und Gewalt beziehungsweise Gefahr für Leib und Leben des Opfers mehr vorliegen, eine erkennbarer Ausdruck der Ablehnung der sexuellen Handlung reicht aus. Das BKA selbst gibt in der PKS 2017 an, dass durch die Gesetzesänderung im Sexualstrafrecht »ein Vergleich der Fallzahlen der Sexual­delikte aus dem Jahr 2017« mit den Zahlen des Vorjahrs »nur bedingt möglich« sei.

Kategorien wie »deutsch« und »nichtdeutsch« taugen zudem nur bedingt, um Kriminalität bei Menschen mit Migrationshintergrund zu erfassen. Spätaussiedler und Eingebürgerte beispielsweise werden der Kategorie »deutsch« zugewiesen. Die Polizei Duisburg schrieb deshalb 2013 in ihrem Kriminalitätsbericht, dass »der (uninterpretierte) Aussagewert der Kriminalstatistik zur Ausländerkriminalität daher gering« sei.

Ein weiterer Faktor, der sich auf die Zahlen von Zuwanderern in der PKS auswirkt, ist deren Alter: Fast 40 Prozent aller Zuwanderer sind Männer bis 30 Jahren, bei denen aus Nordafrika und der Subsahararegion liegt dieser Anteil noch höher. Weltweit tauchen gerade Männer im Alter von 18 bis 30 Jahren verstärkt in Kriminalstatistiken auf. 2017 stellten 14- bis 30jährige Männer ungefähr zehn Prozent der Be­völkerung Deutschlands, aber knapp 52 Prozent der einer Gewalttat Verdächtigen.

Oft wird behauptet, dass die Anzeigebereitschaft deutlich höher sei, wenn es sich bei Tatverdächtigen um Nichtdeutsche handelt, etwa von dem Kriminologen Christian Pfeiffer. Allerdings gab es in den vergangenen 20 Jahren lediglich eine deutsche Studie zu dem Thema: »Die Ethnie des Täters als ein Prädiktor für das Anzeigeverhalten von Opfern und Zeugen« von Jürgen Mansel und Günter Albrecht aus dem Jahr 2003. In 624 untersuchten Fällen, in denen nähere Angaben zum mutmaßlichen Täter gemacht werden konnten, wurde ein deutscher Tatverdäch­tiger mit einer Wahrscheinlichkeit von 38,6 Prozent angezeigt, ein nichtdeutscher Tatverdächtiger aber mit einer Wahrscheinlichkeit von 52 Prozent. Demnach wäre die Wahrscheinlichkeit, als »Nichtdeutsche« angezeigt zu ­werden, etwa ein Drittel höher. Mansel und Albrecht kommen jedoch zu dem Schluss, dass der Faktor »deutsch/nichtdeutsch« keine hinreichende Erklärung für die erhöhte Anzeigebereitschaft darstellt, wenn zusätzlich der Faktor »Beziehung zum vermeintlichen Täter« berücksichtigt wird. Nichtdeutsche Tatverdächtige sind den Anzeigenden häufiger unbekannt als deutsche Tatverdächtige. Bei Tatverdächtigen aus dem eigenen Umfeld ist die Anzeigebereitschaft verringert, so dass die Autoren den Schluss ziehen, dass die Herkunft der Täter »die Höherbelastung der Ausländer in der polizeilichen Kriminalstatistik« nicht erklären könne.