Der britische Austritt eint den Rest der EU

Erstaunliche Einigkeit

Warum die EU-Staaten in der Frage des EU-Austritts Großbritanniens vergleichsweise geschlossen auftreten.
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Der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union ist eines der erstaunlichsten Ereignisse in der Geschichte der EU. Überraschend ist dabei nicht, in welchem Maß sich die politische Klasse in Großbritannien nach allen Regeln der Kunst zerlegt. Verblüffend ist vielmehr, dass die verbleibenden Mitgliedstaaten bei den Austrittsverhandlungen der Regierung in London bislang geschlossen gegenübertreten.

Auch jetzt, kurz vor einem möglicherweise fatalen Finale, weichen sie nicht von ihrer Linie ab. Dass die EU-Staaten in einer solch komplizierten und existentiellen Frage einig auftreten, ist alles andere als selbstverständlich. Immerhin handelt es sich dabei um eine Union, die sich nur nach zähen Verhandlungen auf europaweite Normgrößen für Gurken einigen kann – eine Regelung, die 2009 wieder abgeschafft wurde.

Viele Gemeinsamkeiten hat es in der EU in der jüngeren Vergangenheit nicht gegeben. Mittlerweile gefallen sich einige Mitgliedstaaten sogar darin, sich als Feinde Europas zu gerieren. So denunzieren die ungarische und die polnische Regierungen die EU-Kommission in Brüssel als eine Art neues Moskau, als ein totalitäres System, das die Bevölkerung in ein liberales Wertekorsett zwingen wolle. In vielen westlichen EU-Staaten formieren sich ebenfalls völkische Bewegungen, in Italien sitzen sie bereits in der Regierung.

Was läge da näher, als den kommenden britischen EU-Austritt als Anlass zu nehmen, um eigenmächtig und um des nationalen Vorteils willen separate Abkommen zu schließen? Darauf spekulierten die »Brexit«-Hardliner im britischen Parlament. Sie gingen davon aus, dass die zweitgrößte Nationalökonomie und die stärkste Militärmacht Europas noch genügend Einfluss besäße, um die Staaten der chronisch zerstrittenen Europäischen Union gegeneinander auszuspielen. Dass dieser Plan bis jetzt nicht funktioniert hat, liegt nicht nur an dem übertriebenen Glauben vieler Briten an die eigene Stärke. Ohne Zugang zum EU-Binnenmarkt sticht der stärkste Trumpf Großbritanniens, die City of London mit ihren globalen Finanzdienstleistungen, nicht mehr. Die britische Industrie wiederum ist ein blasser Schatten ihrer glorreichen Vergangenheit. Und keine der ehemaligen Kolonien ist heutzutage darauf angewiesen, einen exklusiven Freihandelsvertrag mit der Regierung in London zu schließen.

Umgekehrt hätten die EU-Staaten von separaten Abkommen mit Großbritannien nicht viel zu erwarten, aber alles zu verlieren, falls die Union daran zerbrechen würde. Selbst die borniertesten Nationalisten in Warschau oder Budapest wollen nicht auf die Mittel aus den Brüsseler Strukturfonds verzichten. Ihre Wirtschaft ist mittlerweile fast vollständig in den europäischen Binnenmarkt integriert und ohne ihn kaum noch lebensfähig. Die Lieferketten der Unternehmen kennen schon längst keine Grenzen mehr. Italiens Ökonomie würde ohne die EU kollabieren, niemand würde dem Land noch einen Cent leihen.

Die erstaunliche Einigkeit gegenüber Großbritannien entspringt dem banalen Wissen, dass kein europäisches Land in der Lage wäre, allein gegen die Konkurrenz aus China und den USA zu bestehen. Die wirtschaftliche Integration Europas ist weit fortgeschritten. Sie kann nicht mehr aufgelöst werden, ohne dauerhaften Schaden zu verursachen. Deshalb wollen die verbleibenden EU-Mitgliedstaaten daran festhalten, und sei es nur, um eigene Vorteile zu bewahren. Es ist bezeichnend, dass ausgerechnet das Ausscheiden eines Landes sie daran erinnern muss.