Illiberal per Gesetz
Es waren die größten Proteste in Ungarn seit Jahren. Tausende protestierten im Dezember gegen die von ihren Kritikerinnen und Kritikern als »Sklavengesetz« bezeichnete Reform des Arbeitsgesetzes. Sie war am 12. Dezember vom ungarischen Parlament mit der Zweidrittelmehrheit der regierenden Parteien verabschiedet worden. Das neue Arbeitszeitgesetz erhöht die maximale Zahl der Überstunden von bisher 250 auf 400 pro Jahr und erlaubt es Arbeitgebern, diese erst innerhalb von drei Jahren zu bezahlen. Die Reform begründete Ministerpräsident Viktor Orbán mit dem Bedarf multinationaler Unternehmen im Land an mehr Arbeitskraft.
Da in Ungarn die deutschen Unternehmen am stärksten vertreten sind, richteten alte, aus dem Realsozialismus tradierte antikapitalistische Reflexe die kollektive Wut vor allem gegen »das deutsche Kapital«, so dass manche Oppositionelle auf öffentlichen Portalen die deutsche Kanzlerin Angela Merkel für die Reform verantwortlich machten. Ein Mitglied der parlamentarischen Opposition hielt der Regierung im Parlament ein Transparent entgegen, auf dem stand: »Ihr habt’s den Multis besorgt!«
Der Präsident der Deutsch-Ungarischen Handelskammer dementierte in einer Stellungnahme, dass die deutschen Arbeitgeber in Ungarn noch schlechtere Arbeitsbedingungen gefordert hätten, da die gegenwärtigen Gesetze in Ungarn schon jetzt zu den unternehmerfreundlichsten in der EU gehörten und die Arbeitgeber nicht wollten, dass die Beschäftigten abwandern. Doch blieb dies weitgehend unbeachtet.
Seit der Verabschiedung des neuen Staatsbürgerschaftsgesetzes wurde über einer Million Menschen die ungarische Staatsbürgerschaft verliehen, mit dem erklärten Ziel, das »universelle Magyarentum« zusammenzuhalten und seine Hilfe beim Ausbau der Regierungsideologie in Anspruch zu nehmen.
Zwar gibt es bei der Stärkung der Arbeitnehmerrechte und der Gewerkschaften in Ungarn dringenden Handlungsbedarf, doch die Tatsache, dass zwei weitere, am selben Tag verabschiedete Gesetze kaum öffentliche Beachtung fanden, zeigt, dass die Analyse der Geschehnisse in Ungarn sehr einseitig wirtschaftsorientiert ist. Das Thema illiberaler Demokratieabbau durch den völkischen Ethnonationalismus wird kaum behandelt.
Ebenfalls am 12. Dezember verabschiedet wurde das »Verwaltungsgesetz«. Es sieht vor, dass ab 2019 eigene Gerichte für Verwaltungsangelegenheiten eingerichtet werden, die vollständig von der Regierung und vom Justizminister abhängig sind. Das heißt, dass in strittigen Fällen, die für die Regierung von Bedeutung sind, nur der Regierung loyale Richterinnen und Richter entscheidungsbefugt sein werden. Damit geht die gerichtliche Kontrolle über die ungarische Staatsverwaltung verloren, ein weiterer Teil des Rechtsstaats wird abgebaut.
Während bis jetzt einzelne Bürgerinnen und Bürger bei Klagen gegen die Regierung durchaus gewinnen konnten, könne man in Zukunft nicht mehr mit solchen Urteilen rechnen, in denen die Bürgerin oder der Bürger in einem wichtigen, aus Sicht des Staats sensiblen Fall sich gegen diesen durchsetzen könne, so die Befürchtung der Menschenrechtsorganisation Ungarisches Helsinki Komitee. Dieses Gesetz verschärft noch einmal die bereits ausgeprägte juristische Willkür.
Das andere neue Gesetz, das »EU-Wahlgesetz«, gestattet auch außerhalb der EU lebenden ungarischen Staatsbürgerinnen und -bürgern, an den Wahlen zum Europaparlament teilzunehmen. Um das Ausmaß dessen zu verstehen, muss man das neue Staatsbürgerschaftsgesetz (seit 2010 in Kraft) und das neue Grundgesetz (seit 2012 in Kraft) berücksichtigen. Seit die Partei Fidesz 2010 an die Macht kam, verfügt sie mit ihrem Koalitionspartner, der Christlich-Demokratischen Volkspartei (KDNP), über eine Zweidrittelmehrheit im Parlament, die Verfassungsänderungen ermöglicht. So konnte sie das neue Staatsbürgerschaftsgesetz nach dem Prinzip ius sanguinis verabschieden. Es integriert die sogenannten Diasporamagyaren, wie sie im ethnonationalen Jargon genannt werden, in die »Volksgemeinschaft«, selbst wenn sie nicht in Ungarn leben. Grundlage der Staatsideologie Ungarns ist heutzutage der Blut-und-Boden-Mythos. Eine Person, die beispielsweise in den USA lebt und kaum Ungarisch spricht, kann durchaus zur imaginierten kulturellen und blutmäßigen Abstammungsgemeinschaft des Magyarentums gehören. Da die ideologische Grundlage der »Volksgemeinschaft« eine »Religion des Blutes« ist, müssen die neuen ungarischen Staatsbürgerinnen und -bürger bei der Verleihung der Staatsbürgerschaft ein Gelöbnis oder einen Eid auf das »nationale Glaubensbekenntnis« – so der Titel des neuen Grundgesetzes – ablegen.
Seit der Verabschiedung des neuen Staatsbürgerschaftsgesetzes wurde über einer Million Menschen die ungarische Staatsbürgerschaft verliehen, mit dem erklärten Ziel, das »universelle Magyarentum« zusammenzuhalten und seine Hilfe beim Ausbau der Regierungsideologie in Anspruch zu nehmen.
Die Opposition in Ungarn spricht der Regierung jegliche Ideologie ab und kritisiert deren Korruption. Außer Acht bleibt, dass die Regierung erklärtermaßen illiberal ist, für ein »nationales und weißes Erwachen« kämpft und eine kohärent und nachvollziehbar antimoderne, demokratiefeindliche Politik betreibt. Sie will die demokratisch-menschenrechtliche Grundlage der EU in ein konservativ-revolutionäres, männlich-hierarchisch aufgebautes »Europa der Nationen« umgestalten. Dafür baut sie ein Netzwerk aus, in dem innerhalb Europas und darüber hinaus die »konservativen Revolutionäre« gegen die Vielfalt und die Toleranz zusammenarbeiten. Dafür hat sie innerhalb des Landes bereits den Großteil der Kultur-, Medien- und Bildungslandschaft gleichgeschaltet, die Geschichte umgeschrieben und die Sozialgesetze so geändert, dass diejenigen aus dem sozialen Netz fallen, die die angestrebte »Volksgemeinschaft« vermeintlich gefährden.
Nun geht es an die Umgestaltung Europas. Das neue ungarische EU-Wahlrecht ist dafür ein wichtiges Instrument.