In Israel wurden die Mizrahim, Juden aus Nordafrika und dem Nahen Osten, lange benachteiligt

Die anderen Araber

Seite 2 – Von Kube bis Handkuss
Reportage Von

Auch eine Dichtergruppe namens »Ars Poetica« hat den Mizrahim in den ­vergangenen Jahren eine Stimme gegeben. Sie hat es zu landesweiter Bekanntheit gebracht, in israelischen Medien ist sogar von einer »Revolution der Mizrahim« die Rede. Der nach Berlin ausgewanderte Dichter Mati Shemoelof ist einer der Gründer. Als Teil des neuen Bildungsprogramms lesen israelische Schülerinnen und Schüler auch sein Gedicht mit dem Titel »Wieso ich keine israelischen Liebesgedichte schreibe«. Shemoelofs Mutter ist im Irak geboren, seine Großeltern väterlicherseits kamen in den zwanziger Jahren aus Syrien und dem Iran in das damalige britische Mandatsgebiet.

»Meine Großmutter war Bagdaderin. Meine Mutter und Großmutter sprachen beide irakisches Arabisch. Mir haben sie es leider nicht beigebracht, aber ich habe das gelebt. Jeden Freitag gab es Kube bei der Oma. Mein Vater sprach Persisch mit seinem Vater, hat ihm sogar die Hand geküsst – das war ein gängiger Brauch. Ich hatte den ganzen Nahen Osten in meinem Leben: Philosophie, Kultur, Alltagsrituale«, erzählt er.

Shemoelof kämpft als Publizist dafür, dass den Mizrahim mehr Anerkennung zuteil wird. Unter anderem hat er ein Buch über die dritte Generation herausgegeben, »über diejenigen, die keine eigene Erinnerung an arabische Länder haben und in Schulen gegangen sind, in der die Kultur unserer Familien nicht Teil des Lehrplans war. Das Schulsystem lehrt über das Wien von Theodor Herzl und das Polen von David Ben Gurion.

Aber den Mizrahim wurde immer gesagt: Bei euch, da gibt es nichts an Kultur!« Er sehne sich danach, einmal in den Irak, Syrien und den Iran zu reisen, sagt Shemoelof.

So etwas verspürt die pragmatische Realpolitikerin Koren nicht. Sie sei ­natürlich daran interessiert, auf den Spuren ihrer Vorfahren einmal in den Jemen zu reisen. Aber es gebe ja keinen Frieden. Einerseits ist sie stolz auf ihre jüdisch-arabische Herkunft. Andererseits vertritt ihre Partei eine harte Linie gegen Israels Feinde, womit oftmals kulturelle Ablehnung einhergeht.

Insbesondere die bei vielen Künstlerinnen und Künstlern für ihre nationalistische Kulturpolitik berüchtigte Kulturministerin Miri Regev (Likud) personifiziert dieses Phänomen. Die Tochter eines marokkanischen Vaters hat sich die Förderung der Mizrahim zur Aufgabe gemacht – gepaart mit einer Kampfansage an alle Kulturschaffenden, die dem Staat gegenüber nicht loyal genug sind. Shemoelof und viele andere Israelis betrachten das als gefährlich, aber der Publizist glaubt, dass »die Revolution der Mizrahim kommen wird – mit oder ohne Miri Regev«.

 

Traditionell, aber nicht orthodox

Die Mizrahim repräsentierten lange die israelische Unterschicht. Die 1971 gegründeten israelischen Black Panthers warfen zum ersten Mal die »orientalische Frage« in Israel auf. Zur Diskussion um die soziale und kulturelle Anerkennung der arabischen und iranischen Herkunft der Mizrahim und der daraus folgenden Wahrnehmung Israels als »östlich« statt als »westlich« gehörte immer auch die Frage nach der Möglichkeit, kulturelle Verbindungen zu den arabischen Gesellschaften aufzubauen. Aber Kritikerinnen wie die berühmte Soziologin Eva ­Illouz bemängeln, dass eine echte »Revolution« der Mizrahim noch nicht stattgefunden habe, nicht nur, weil sie weiterhin geringere Aufstiegschancen hätten, sondern auch, weil das Potential des kulturellen Selbstverständnisses ­Israels als nahöstliches Land noch lange nicht ausgeschöpft sei.

Solche Versuche gibt es aber. Eine jüngere, 2016 gegründete Bewegung der Mizrahim nennt sich Tor Hazahav, ­Hebräisch für »Das goldene Zeitalter«. Eine ihrer For­derungen ist, die arabische Sprache in israelischen Schulen von der ersten Klasse an als Pflichtfach einzuführen, um auf lange Sicht die Beziehungen zu palästinensischen beziehungsweise arabischen Staatsbürgern in Israel sowie zu den anderen Ländern des Nahen Ostens zu verbessern. »Als ich Tor Hazahav gründete, bekam ich sofort Einladungen von der Palästinensischen Autonomiebehörde und von der Vereinigten Arabischen Liste. Das zeigt, dass auch sie an diesen Verbindungen interessiert sind«, erzählt der Mitgründer Ophir Toubul, dessen Eltern aus Marokko nach Israel kamen. Die Partei Vereinigte Arabische Liste (Ra’am) ist ein Zusammenschluss mehrerer arabischer Parteien und als Teil der Vereinten Liste die drittstärkste Fraktion in der Knesset.

Tor Hazahav habe er mitgegründet, sagt Toubul, weil es im Zionismus eine große Lücke gebe, was die Mizrahim betrifft: die Religion. In der israelischen Gesellschaft herrsche eine oft feind­selige Polarität zwischen Säkularen und Orthodoxen. Aber die Mehrheit der ­Bevölkerung, so Toubul, sei weder das eine noch das andere. Viele Mizrahim sähen sich selber als »traditionell«. Sie hielten sich an jüdische Traditionen, begingen den Sabbat, hätten eine positive Einstellung zur Religion und schätzten die Familie wert. »Sie sind nicht säkular«, sagt Toubul, »aber eben auch nicht streng religiös«.

Europäische Juden waren bei ihrer Ankunft in Israel größtenteils säkularisiert, und sie verlangten von den Miz­rahim, auch so zu werden. Mit der Ausübung von Religion wurde und wird teilweise bis heute ein minderwertiger kultureller Status assoziiert. Die rund 100 Mitglieder von Tor Hazahav möchten genau diejenigen mobilisieren, denen sowohl Tradition als auch Liberalismus und Demokratie wichtig sind.

Auch Toubul repräsentiert die neue Mizrahi-Mittelschicht: »Meine Eltern haben hart gearbeitet, mein Vater war Gabelstaplerfahrer. Sie haben Geld gespart, ein Haus gekauft, meine Ausbildung bezahlt.« Er selbst habe einen Master-Abschluss in Jura. Zum Sabbatmahl singe er mit seiner Familie marokkanische Gebete. »Jahrelang haben sich in Israel viele Menschen für ihre Kultur geschämt. Aber an ihren Traditionen haben sie trotzdem festgehalten«, sagt er. Der Wandel habe plötzlich eingesetzt und sei innerhalb der vergangenen zehn Jahre immer deutlicher geworden.

 

Musik als Brücke

Nirgends ist das deutlicher als in der Musik. Orientalische Sounds, die in ­Israel früher von der kulturellen Führungsschicht ignoriert wurden, die nicht im Radio gespielt wurden und deren Musiktexte als kitschig galten, sind mittlerweile zum Mainstream geworden. Die populärsten Musikerinnen und Musiker in Israel sind Mizrahim oder bedienen zumindest das Genre, das den gleichen Namen trägt – von der Königin der Mizrahi-Musik, Sarit Hadad, bis hin zu jüngeren Popstars wie Eden Ben-Zaken und Rockgrößen wie Dudu Tassa.

Dessen Großvater und Großonkel gehörten einst zu den berühmtesten irakischen Musikern. Auf den Bühnen haben arabische Instrumente wie die Oud neben E-Gitarren einen Platz gefunden, und immer öfter wird auch auf Arabisch gesungen.

Wie zum Beispiel bei der Frauenband A-WA, die aus den drei Schwestern Tair, Liron und Tagel Haim besteht. Mit ihrer Hit-Single »Habib Galbi« (»Liebe meines Herzens«) landete 2015 zum allerersten Mal in der Geschichte Israels ein vollständig arabischsprachiges Lied auf dem ersten Platz der Charts. Die Großeltern der Musikerinnen waren mit einem unter dem Decknamen »Operation Fliegender Teppich« bekannten Flugtransport aus dem Jemen nach Israel gekommen. Per Flugzeug wurden zwischen 1949 und 1950 rund 49 000 bedrohte jemenitische Jüdinnen und Juden nach Israel gebracht. Die Eltern zogen in ein Dorf mitten in der Wüste Negev, und dort wuchsen die Geschwister Haim auf. Sie hätten sich zwar nicht für ihre Herkunft geschämt, aber so richtig ausgelebt hätten ihre ­Eltern sie auch nicht, erzählen die Schwestern.

Oft hätten sie die Großeltern in Gedera besucht, einer Stadt mit einer ­großen jemenitischen Gemeinde. »Dort hörten wir die arabische Sprache, im ­Dialekt der jemenitischen Juden, und die Musik, sahen auf Hochzeiten die ­jemenitischen Tänze. Und das hat uns wahnsinnig neugierig gemacht«, so Tair Haim. Ihre Muttersprache ist zwar Hebräisch, dennoch sei Arabisch für sie die erste Wahl bei ihren Songs gewesen: »Wir wollten eine Musik kreieren, die unser Innerstes zum Ausdruck bringt, etwas, das sich wie ein Zuhause anfühlt. Wenn wir unseren Mund aufmachen und auf Arabisch singen, sind wir gefühlt bei unserer Familie, unserem Vater und den Großeltern.«

A-WA bekommen Fanpost aus Marokko, Ägypten und dem Jemen. Bei Aufführungen in Europa und den USA haben sie muslimische Jemenitinnen und Jemeniten kennengelernt, die wegen des Kriegs aus ihrem Herkunftsland geflüchtet sind. Diese persönlichen Verbindungen in den Jemen sind den Geschwistern sehr wichtig. »Wir träumen immer davon, dort zu sein. Die Jemeniten, die wir treffen, können wegen des Kriegs nicht zurück. Sie sagen, dass unsere Musik ihnen Hoffnung gebe.« Noch in der Generation ihrer Eltern hätten viele Mizrahim sich gezwungen gefühlt, ihre »arabische« Herkunft abzulegen. Das habe sich endlich geändert.

Am 23. Januar ist die neue Single von A-WA erschienen – selbstverständlich auf Arabisch.