Der Höhepunkt in der Musik

Der musikalische Höhepunkt

Über die Vertonung der Glückseligkeit.

In keiner Kunst spielt der Höhepunkt eine so zentrale Rolle wie in der Musik. Die Klimax, der musikalische Höhepunkt ist dort fast ein Fachbegriff, um den Augenblick der maximalen Energiedichte, die Kulmina­tion der Entwicklung oder auch den höchsten Ton einer Melodie zu bezeichnen. Ein Musikstück ohne ihn gilt beinahe als langweilig und spannungslos. Gewiss, Höhepunkte gibt es in allen zeitorganisierten Künsten, in der Literatur, im Film und Thea­ter, aber in der Musik, die ohne Worte auskommen muss und nicht einfach eine Geschichte erzählen kann, wird er essentiell.

Nun haben Musik und Sexualität viel gemeinsam. Die Musik spielt von allen Kunstformen in unserem Leben die größte Rolle, die Popmusik bildet ein ubiquitäres Phonotop, Werbung und Fernsehen ohne Musik im Hintergrund sind undenkbar, die Filmmusik wird zum integralen Teil eines multimedialen Werks. Musik ist ausgesprochen sinnlich und wird von uns ähnlich erotisch und verführerisch empfunden wie die eine oder andere Liebesaffäre im wirklichen Leben. Wir verhalten uns den Lieblingsstücken gegenüber wie Verliebte, meist süchtig und zuweilen blind. Die Musik vollzieht sich in der Zeit und führt uns in energetische und emotionale Verläufe, in die wir uns fallen lassen. Das Sujet Liebe ist in den Opern und unzähligen Liedern allgegenwärtig. Das »morire« bildet einen Topos in der Barockmusik und bedeutet dort nicht nur das zum Tod führende Liebesschmachten, sondern durchaus die Andeutung eines petite mort, somit eines sexuellen Höhepunkts. Freilich arbeitet die Barockmusik mit stilisiertem Vokabular und vermag zur Lust des Fleisches noch nicht vorzudringen. Für eine naturalistische Darstellung musste sich die musikalische Sprache erst noch zwei Jahrhunderte entwickeln.

Ihrer erotischen Qualität wegen wurde von der Musik ein substantieller Beitrag zur Sexualität erwartet. Aber auch zum Orgasmus? Musikwerke, die ihn zum eigenen Thema machen, ja abzubilden oder nach­zuzeichnen suchen, sind rar. Es werden zwar Kandidaten genannt, bei denen angeblich Frauen zum Höhepunkt kommen: Rachmaninows Zweites Klavierkonzert oder Bachs Orgeltoc-cata BWV 540. Doch solche Wirkungen sind ebenso kontingent wie das Auslösen warmer Erinnerungen durch Gerüche, denen wir beim »ersten Mal« begegnet sind. Von feministischer Seite wurde sogar dem Repriseneintritt im ersten Satz von Beethovens Neunter Symphonie ein Vergewaltigungsakt unterstellt. Und natürlich wird Ravels »Bolero« genannt. Nicht zuletzt, weil eine gewisse Bo Derek, eine durchschnittlich begabte US-Schauspielerin und ­Sexsymbol der achtziger Jahre, im Film »Zehn – die Traumfrau« auf ­Ravels Musik vergnüglich vögelt und, weil es so schön ist, die Plattennadel zurücksetzt, damit der Spaß kein ­jähes Ende findet. Die Plattenindus­trie erfreute sich großer Umsätze, und so gelangte das Orchesterwerk in die Massenkultur als Beispiel für einen musikalischen Orgasmus.

Allein, es sind Missverständnisse. Das lässt sich gerade am »Bolero« zeigen, der ein geniales und einmaliges musikalisches Experiment ist: Abwechselnd werden zwei Melodien über einem immergleichen Rhythmus in der Trommel wiederholt, der peu à peu vom Orchester aufgegriffen wird, sonst nichts. Diese Monotonie ist gewollt und wird getragen von einem immerwährenden großen Crescendo, das am Ende ins Stocken gerät und vom Komponisten mit ­einer kurzen Schlussgeste brutal abgeschnitten wird. Dieses Crescendo – nichts anderes ist der Bolero – solle paradigmatisch den Weg zum Orgasmus musikalisch nachzeichnen und erlebbar machen, so die populäre Meinung. Nur funktioniert auf diese Weise, das wird übersehen, weder der Orgasmus, noch kommt ein Höhepunkt in dieser Musik überhaupt vor. Freilich ist es kein Zufall, dass dieses Werk häufig erwähnt wird; es vertont am konsequentesten das Prinzip der Steigerung, geradezu linear und für jeden nachvollziehbar. Und nicht wenige wähnen darin Ekstase.

 

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