Frank Castorf inszeniert »Galileo Galilei« im Berliner Ensemble

Fake oder Folter

Frank Castorf setzt sich in seiner sechsstündigen Inszenierung des »Galileo Galilei« mit Brecht und Artaud auseinander.

In der Theatergeschiche des 20. Jahrhunderts gelten Bertolt Brecht und Antonin Artaud als ein prägendes Gegensatzpaar. Brecht steht für das epische Theater, das auf die nüchterne Distanz vertraut; ein Theater im wissenschaftlichen Zeitalter, das das Interesse an gesellschaftlichen Vorgängen für das Theater übersetzt und auf soziale Handlungen hinwirkt. Das Denken sei das größte Vergnügen der Menschheit, lässt Brecht den Renaissancewissenschaftler Galileo Galilei ausrufen. Anders Artauds »Theater der Grausamkeit«, das zum rauschhaften Exzess des Rituals zurück will, eine alle Grenzen niederreißende ästhetische Erfahrung sucht, die das Mysterium der Einheit herstellen soll. Es ist ein Theater, das der Wissenschaft entflieht.

Brecht und Artaud stehen auch für je unterschiedliche Auffassungen der Säkularisierung. Dass das Theater mit der Loslösung vom Ritual das Vergnügen an den sinnlichen Vorgängen beibehielt, ist die Ansicht Brechts. Die Formen dienen neuen Zwecken. Artaud aber hält die Form nicht für überkommen, sondern nur für verdrängt. Sie ist ihm das verlorene Eigentliche.

Für Heiner Müller war das epische Theater Brechts der Ausgangspunkt seiner Arbeit, die sich später immer stärker an Artaud orientierte. Frank Castorf steht in dieser Tradition, wenn er zurzeit am Berliner Ensemble die beiden für ihn wichtigen Dramatiker aufeinanderprallen lässt. In seiner jüngsten Inszenierung »Galileo Galilei – Das Theater und die Pest« von und nach Brecht – bleibt er allerdings erstaunlich nah am Text. Brecht, Artaud, ein bisschen Heiner Müller, ein paar Improvisationen, aber kaum ein Vergleich zu der Fülle an Fremdtexten wie in seiner Abschiedsinszenierung in der Volksbühne, dem »Faust«.

Brecht und Artaud stehen auch für je unterschiedliche Auffassungen der Säkularisierung. Dass das Theater mit der Loslösung vom Ritual das Vergnügen an den sinnlichen Vorgängen beibehielt, ist die Ansicht Brechts. Die Formen dienen neuen Zwecken. Artaud aber hält die Form nicht für überkommen, sondern nur für verdrängt. Sie ist ihm das verlorene Eigentliche. Nun ist tatsächlich fraglich, ob das Kultische in der Moderne überhaupt überwunden ist – oder vielleicht aufgrund der Beständigkeit der Vorgeschichte doch noch wirkt, obwohl geschichtlich überholt. Ist die Welt schon vernünftig? Im »Galilei« wird gefragt: Wie kommt die Vernunft unter unvernünftigen Bedingungen in die Welt? »Der Sieg der Vernunft kann nur der Sieg der Vernünftigen sein«, lautet die Antwort. Doch welcher Mittel müssen die Vernünftigen sich bedienen?

1938 schrieb der im dänischen Exil lebende Brecht »Leben des Galilei«, das Drama über den Physiker Galileo Galilei, der am 22. Juni 1633 vor der kirchlichen Inquisition die Aussage widerruft, dass die Erde um die Sonne kreist, weil seine Erkenntnis nicht mit der biblischen Kosmologie vereinbar erscheint.
Brechts Urteil ist eindeutig: »Wer die Wahrheit nicht weiß, der ist bloß ein Dummkopf. Aber wer sie weiß, und sie eine Lüge nennt, der ist ein Verbrecher!«

Ist Galileis Abschwören zuletzt doch eine List der Vernunft, hilft er der Wissenschaft zum Durchbruch und verweigert das sinnlose Opfer? Oder ist es doch nur ein simpler Verrat an der Sache aus Angst vor dem Schmerz angesichts der Folterinstrumente? Haben die Vernünftigen nicht auch einen schwachen Leib, der im möglichen Gegensatz zu den Anforderungen der Vernunft steht?

Jürgen Holtz in der Rolle des Galilei demonstriert gleich zu Beginn, was das heißt. Er zeigt den nackten gealterten Körper des 86jährigen Greises. Die Spuren des Alters sind nicht zu übersehen. Es ist ein schlaffer, auch ein schwacher Körper. Aber das ist sie, die Basis des Überbaus, der endliche Träger des un­endlichen Wissens.

Wo bei Brecht der einzelne Mensch mit seiner Endlichkeit konfrontiert ist, bezieht Artaud sie aufs Kollektive.

Die Pest als der große Gleichmacher setzt sich über alle Klassengrenzen und Konventionen hinweg, am Ende steht nur der nackte Mensch. Gemälde von Totentänzen schmücken das Bühnenbild, Klerus, Adel, dritter Stand, alle Hand in Hand mit Skeletten. Särge voller Leichen stehen herum, daneben ein hölzerner Turm mit häufig betätigter Glocke und ein schmales zweistöckiges Gebäude im florentinischen Stil, dazu ein paar Leinwände für die Videoprojektionen. In der Mitte der von Aleksandar Denić gestalteten Bühne ist ein riesiges hölzernes Fernrohr aufgebaut, mit dem der neuzeitliche Forscher die Bewegung der Himmelskörper verfolgen kann. Galileis Schüler Andrea blickt hindurch, während die katholische Intelligenz gegen jede Erfahrung abgedichtete Disputationen von sich gibt. Galileis Beweis der Annahmen des Kopernikus stellen eine Erschütterung der herrschenden Ordnung dar, die durch die Reformation sowieso nicht auf festen Füßen steht.

Es erschüttert aber auch ein Weltbild. Sigmund Freud sah in der Kopernikanischen Wende eine der drei großen narzisstischen Kränkungen der Menschheit, gefolgt von den bahnbrechenden Erkenntnissen von Charles Darwin und Freud selbst: Der Mensch ist nicht der Mittelpunkt des Kosmos, er stammt aus dem Tierreich und er ist nicht Herrscher über die eigene Psyche.

In Brechts »Galileo Galilei« ereignet sich im fünften Bild der Ausbruch der Pest. Der Wissenschaftler setzt davon unbeeindruckt seine Forschungen fort. Doch bezeichnend ist sein Ausruf, als er sieht, wie eine Frau von Soldaten interniert wird, während Teile der Stadt in Flammen stehen, ohne dass noch gelöscht wird: »Das ist ihr ganzes Regierungssystem. Sie hauen uns ab wie den kranken Ast eines Feigenbaums, der keine Frucht mehr bringen kann.« Seuchen und Epidemien sind krisenhafte Momente, in denen die Re­gierungsgewalt deutlich zutage tritt. Diese Sicht Brechts scheint weitaus realistischer als Artauds wohl eher von Boccaccios »Decamerone« ab­geschaute Apotheose der Pest als Weltuntergangsorgie. Wo Artaud nur den kollektiven Ausnahmezustand sieht, kann Brecht doch die Bedürftigkeit des individuellen Leibs erkennen. Galilei will essen und er will gut essen. Das bindet ihn nicht nur an seine Haushälterin, die köstlichen Braten zubereitet, sondern auch an die Macht, die das Geld an die Wissenschaft verteilt. »Ich habe meinen Beruf verraten«, resümiert Galilei am Ende. Aber hätte er ihn nicht verraten, hätte er schlechter gespeist? Das bleibt durchaus offen.

Die Rolle des Galilei teilt sich Holtz über den langen Abend mit der ­jüngeren Schauspielerin Jeanne Balibar. Sie tritt in häufig wechselnden, zumeist recht knappen Kostümen von Adriana Braga Peretzki auf, die einem Edelpuff entwendet zu sein scheinen. Stefanie Reinsperger und Sina Martens delirieren pestbeulenüberzogen auf dem Boden. Wolfgang Michael und Aljoscha Stadelmann, an dem Abend für die Blödeleien abgestellt, witzeln, dass auch »der Frank« bald tot sei.

Hiermit erschließt sich eine weitere, wenn nicht gar die zentrale Ebene der Inszenierung: Wer folgt nach? »Ein erfinderisches Geschlecht von Zwergen, die für alles gemietet werden können«, sagt Holtz und es klingt wie ein Vermächtnis, das nicht nur das seinige ist. Wem bleibt die letzte Szene vorbehalten? Rocco My­lord, geboren im 21. Jahrhundert, Sohn des Regisseurs. Es ist noch kein Abschied von Castorf oder Holtz, aber ein Innehalten angesichts der Sterblichkeit und der damit ein­hergehenden Frage, was bleibt.

 

Galileo Galilei – Das Theater und die Pest. Regie: Frank Castorf. Berliner Ensemble. Nächste Aufführungen: 10., 30. und 31. März.