Donbass nach der Wahl von Selenskyi

Der Donbass ist zerstört

Vor fünf Jahren begann der Krieg in der Ostukraine. Der designierte Präsident Wolodymyr Selenskyj, der die Wahl am Sonntag mit über 70 Prozent der Stimmen gewann, will die Einwohner der separatistischen Gebiete für die Ukraine zurückgewinnen. Doch die sozioökono­mische Krise in der Region macht eine Lösung des Konflikts schwierig.

»Hier leben Menschen«, schrieben Bewohner des Donbass in großen Lettern auf ihre Häuser, als 2014 der Krieg begann. Sie wollten damit verhindern, beschossen zu werden. 13 000 Menschen sind seither im Krieg in der Ostukraine getötet worden, über 3 300 von ihnen Zivilisten. An die Stelle der heftigen Gefechte der ersten Jahre ist ein Stellungskampf getreten. Doch an die Verwirk­lichung des 2015 in Minsk ausgehandelten Abkommens zur Konfliktbeilegung glaubt kaum noch jemand. Immer wieder wird der Waffenstillstand gebrochen.

Während des ukrainischen Präsidentschaftswahlkampfs spielte der Krieg keine entscheidende Rolle. Zwar präsentierte sich Präsident Petro Poroschenko als Oberbefehlshaber und Verteidiger des Landes und stellte seinen Konkurrenten Wolodymyr Selenskyj als unzuverlässig und schwach dar. Doch nicht einmal die Enthüllung, dass sich der Fernsehkomiker Selenskyj – wie viele Ukrainer – vor dem Kriegsdienst gedrückt hatte, schadete ihm. Die Unzufriedenheit über den stagnierenden ­Lebensstandard und die korrupte Regierung Poroschenko überwog bei den meisten ukrainischen Wahlberechtigten: Selenskyj wurde in der Stichwahl am Sonntag mit über 70 Prozent der Stimmen zum neuen Präsidenten gewählt.

Dass die Kandidaten nicht über den Weg zum Frieden stritten, liegt wohl auch daran, dass eine Lösung zurzeit kaum vorstellbar scheint. Längst hat sich in der Ostukraine ein bedrückender, blutiger und für die Millionen Menschen, die dort leben müssen, elender Status quo etabliert. Der Donbass, Zentrum der ukrainischen Kohle- und Schwerindustrie, ist von einer über 400 Kilometer langen Front zerrissen, die sich mitten durch Städte und Dörfer, Industriegebiete und Felder zieht. Minen, Stacheldraht und Zehntausende Soldaten trennen die Einwohner der Region, die jahrzehntelang friedlich miteinander gelebt hatten. Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer überqueren jeden Monat die Front. Es sind vor allem alte Menschen aus den Separatistengebieten, die in den von der ukrainischen Regierung kontrollierten Teil des Landes reisen müssen, um ihre kümmerlichen Pensionen abzuholen.

Das Leben an der Front ist gefährlich. Meist sind es die Schutzlosesten, die geblieben sind, diejenigen, die zu alt oder zu arm sind, um in andere Landesteile umzuziehen oder es nicht wagten, ihre Wohnung aufzugeben. Immer wieder schlagen Geschosse in Wohngebiete ein und auch Landminen fordern regelmäßig Opfer, fast die Hälfte von ihnen Zivilisten. Der Donbass ist eines der am stärksten verminten Gebiete der Welt. Die Räumung wird Jahrzehnte dauern, schätzen Experten der ukrainischen Armee. Auch im Hinterland wird die Situation schwieriger. NGOs schätzen, dass eine Million Menschen unzureichend mit Nahrungsmitteln versorgt sind. Der Krieg hat die Wirtschaft zum Erliegen gebracht, die einst wichtige Industrieregion befindet sich in einer Krise.

»Vor allem für die Schwächsten, für Arbeiter und Landbewohner, waren die letzten Jahre elend. Immer mehr Menschen müssen wegziehen, oft gleich ins Ausland«, sagt Brian Milakovsky, der seit 2015 im von der ukrainischen Regierung kontrollierten Teil des Donbass für verschiedene humanitäre und Entwicklungsorganisationen tätig ist. Als Analyst beobachtet er die sozioökonomische Entwicklung der Region. Die Emigration, vor allem nach Polen und Russland, betrifft die ganze Ukraine. In Russland leben mittlerweile drei Millionen Ukrainer, und noch mehr Menschen überqueren regelmäßig als Wanderarbeiter die Grenzen. Nach Angaben der Weltbank überweisen ukrainische Emigranten jährlich umgerechnet elf Milliarden Euro zurück in ihr Herkunftsland – das ist ein Zehntel des Sozialprodukts. »Die Leute wollen nicht nur höhere Gehälter, sie wollen oft auch in einem Land leben, das funktioniert. Sie sind desillusioniert und haben es einfach satt«, berichtet Milakovsky.

Noch düsterer ist die Lage in den von Separatisten kontrollierten Gebieten. Hier schufen einst große Industriekomplexe und der Bergbau Wohlstand für Millionen. Schon vor dem Krieg befand sich die Schwerindustrie in der Krise – der Donbass war ein postsowjetischer rust belt. Doch nach fünf Jahren Krieg, infolge von Blockade, Sanktionen und Misswirtschaft der neuen separatistischen Militärregierungen liegt die Industrie am Boden. Zu Beginn des Konflikts durften viele Fabriken und Minen aus den »Volksrepubliken« ihre Güter noch in die Ukraine ausführen. Diese brauchte Kohle aus dem Donbass. Auch seien die Industrieunternehmen, so argumentierte die ukrainische Regierung damals, Vorposten der Ukraine in den Separatistengebieten und könnten deren Reintegration dienen. Doch 2016 begannen nationalistische Verbände und Kriegsveteranen, den »Bluthandel« mit den abtrünnigen Territorien zu blockieren. Die Separatistenrepub­liken enteigneten daraufhin Fabriken und Minen. Mittlerweile ist der sepa­ratistische Donbass ökonomisch vollkommen abgeschnitten.

Doch die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage werde die Bevölkerung nicht zurück in die Arme der ukrainischen Regierung treiben, so Milakovsky. Der Krieg habe Spuren hinterlassen und die Vorbehalte gegen die Regierung verschärft. Hinzu kommt die separa­tistische, russisch-imperialistische Ideologie der »Volksrepubliken«, die über Medien und Schulen verbreitet wird.
In einem Bericht von 2018 kritisierte die NGO International Crisis Group, dass die ukrainische Regierung die Bevölkerung in den Territorien, gegen die sie Krieg führt, mit ihrer harten Politik noch weiter von sich entfremde. Der Bericht basiert auf Interviews mit weit über 100 Persönlichkeiten der ­ukrainischen Politik. Viele Verantwortliche seien der Ansicht, die Menschen in den nicht von der Regierung kontrollierten Gebieten würden als Kollabo­rateure zu Recht bestraft. Während die Bewohner des Donbass von Russland enttäuscht seien, wachse deshalb auch die Entfremdung von Kiew.

Selenskyj hat im Wahlkampf für Bemühungen plädiert, die Bevölkerung in den abtrünnigen Gebieten zurückzugewinnen. Man müsse ihre humanitäre Notlage lindern und etwa Pensionen wieder direkt an Rentner in Donezk und Luhansk überweisen. Auch wolle er einen russischsprachigen Fernsehsender aufbauen, um den dort ansässigen Menschen eine Alternative zu russischen Medien zu bieten und ihnen ein besseres Bild des Lebens in der Ukraine zu zeigen. »Wenn wir den Informationskrieg gewinnen, werden die Menschen uns selbst helfen, die Territorien zurückzugewinnen«, sagte er in einem Fernsehinterview. Diese versöhnlichen Töne dürften ein Grund für seine große Popularität vor allem im Osten des Landes sein: Je weiter östlich, und damit je näher zum Krieg, desto besser schnitt er ab.

Die bisherige Härte der ukrainischen Regierung gegenüber den »Volksre­publiken« sollte Russland unter Druck setzen. Denn je schlechter die Lage im Donbass, desto mehr Geld muss Russland investieren, um die »Volksrepub­liken« zu unterhalten. Es ist nicht bekannt, wie viel das den russischen Staat kostet; umgerechnet über eine Milliarde US-Dollar jährlich, schätzte einmal die ukrainische Regierung.

Die Zeitung Kommersant berichtete Mitte April, die russische Regierung bereite sich darauf vor, russische Pässe an die Bewohner der »Volksrepubliken« zu verteilen. So könnten diese leichter in Russland arbeiten und wären dauerhaft an den russischen Staat gebunden. Es wäre ein Schritt zu einer schleichenden Annexion, die ohne eine kostspielige Übernahme von Territorien auskommt – und ein unverhohlener Versuch, den designierten ukrainischen Präsidenten unter Druck zu setzen. Offen bleibt, ob, und wenn ja, zu welchem Preis Russland bereit sein könnte, seine Kontrolle über die Territorien aufzugeben. Und selbst wenn dies geschähe, wäre das Problem, wie der kriegszerstörte Donbass wieder Teil der Ukraine werden könnte, nicht gelöst. Mit jedem Jahr, das der Krieg andauert, verschlechtern sich die Lebensbedingungen im Donbass weiter – und wird die Reintegration schwieriger. »Die ­Situation ist vielleicht tragbar in dem Sinne, dass die Regierungen in Kiew und Moskau den Status quo ertragen können«, meint Milakovsky, »aber nicht, wenn es darum geht, dass der Donbass ein Ort sein soll, an dem ­Menschen leben wollen.«