Das Ende der Tabakindustrie in Deutschland

In letzten Zügen

Das nahende Ende der Zigarettenproduktion in Deutschland beschließt den Prozess der Deindustrialisierung – ökonomisch wie mentalitätsgeschichtlich.
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Die Verbannung des Rauchens aus öffentlich genutzten Innenräumen – ob Büro, Seminarraum oder Warteabteil – ist mittlerweile umfassend und lückenlos. Noch verteidigen die Raucher, sekundiert von einer Handvoll nostalgischer Publizisten und Juristen, sowohl die Straße als auch ihre privaten Räume gegen rechtliche Beschränkungen des Konsums von glimmendem Tabak; auch auf manchen Bahnsteigen wird ihnen bislang zumindest ein abgelegenes ­Eckchen zugestanden. Doch auch diese Refugien sind keineswegs gesichert: Gerichte haben in den vergangenen Jahren Urteile gegen rauchende Mieter gefällt, die den klagenden Nachbarn Ansprüche auf Mietminderung und auch Unterlassungsansprüche einräumen (gegen das ­Rauchen auf dem Balkon beispielsweise); Nordrhein-Westfalen wie­derum strebt ein gesetzliches Rauchverbot in Privatfahrzeugen an, wenn Kinder oder Schwangere zugegen sind. Und gegen die Draußenraucher hat der Berliner Stephan von Orlow in diesem Sommer eine Peti­tion initiiert, die fordert, ein Pfand auf Zigarettenfilter und -schachteln von den Käufern einzubehalten, ein von den Medien auffällig wohlwollend kommentiertes Unterfangen.

Von Orlow und auch die gängige Rechtsprechung können sich der öffentlichen Unterstützung sicher sein: Ansichten wie die, dass jeder für die Folgen seines Lebenswandels gefälligst alleine aufkommen soll und die Unterstützung der Gemeinschaft der Beitrags- und Abgabenzahler verwirkt habe, oder wie jene, dass niemand von ungesunder Lebensweise seiner Mitmenschen auch nur im mindesten behelligt werde dürfe, passen perfekt zur Mentalität der sogenannten Risikogesellschaft, die Lebensplanung und Lebensrisiken zu pri­vatisieren sucht, so weit und wo immer nur möglich. Darüber hinaus vertragen sich derlei Ansichten auch nur allzu gut mit der kurrenten öko­logischen Denkform, die offenbar jener postindustrielle Alltag stiftet, den zeitgenössische westliche Großstädte ihren Bewohnern bieten – die Schornsteine rauchen ja andernorts und sicher jenseits des Horizonts der Innenstädter.

Und den rauchenden Industriezweig schlechthin wird es wohl hierzulande auch nicht mehr lange geben. »In Deutschland stirbt die Tabakindustrie«, sagte unlängst Ina Korte-Grimberg, Referatsleiterin »Genuss« der Gewerkschaft NGG. In der Tat: Im Jahr 2002 beschäftigten die Zigarettenhersteller in Deutschland – in der Hauptsache sind das die großen Konzerne wie BAT, Reemtsma, Philip Morris und Japan Tobacco – mehr als 12 000 Mitarbeiter; Ende kommenden Jahres werden es voraussichtlich weniger als die Hälfte sein. Im deutschen Stammwerk von BAT, das in Bayreuth bisher neben Lucky Strike und Pall Mall auch die altbundesrepublikanische Kultmarke HB herstellte (ihr Maskottchen, das erst durchs Rauchen zu befriedende cholerische HB-Männchen, kannte jedes Kind), fährt der britische Mutterkonzern die Produktion herunter, an die 1 000 Mitarbeiter werden entlassen.

 

Philip Morris ist dabei, sein deutsches Hauptwerk in Berlin dichtzumachen, die Ankündigung, die kleine Außenstelle in Dresden für die E-Zigarettenproduktion auszubauen, wurde zurückgenommen. Und auch wenn Reemtsma (Hauptmarken: West und Gauloise) und Japan Tobacco (Camel und Winston) vorerst noch an ihren Werkstandorten in Langenhagen beziehungsweise Trier fest­halten, ändert das nichts daran, dass das Gros der in Deutschland pro Jahr verkauften 75 Milliarden Zigaretten längst in Osteuropa gefertigt wird, in Polen, Rumänien, Ungarn oder Kroatien. Die diversen Liquids beziehungsweise Tabakstreifen für die batteriegestützte Nikotininhalation wiederum, in der die Konzerne das Geschäft der Zukunft sehen – eine auffällige Parallele zur Fahrzeug­industrie –, kommen in Zukunft vorwiegend aus Italien, Griechenland und Großbritannien auf den deutschen Markt, immerhin den zweitlukrativsten Markt der Welt, nach dem der USA.

Das liegt nicht zuletzt daran, dass die circa 20 Millionen Raucher in Deutschland noch jede der jährlichen Preissteigerungen mitgemacht haben und die ärmeren Raucherhaushalte in der Not eben auf zweit­klassige Discounter-Zigaretten beziehungsweise drittklassige Feinschnitttabake zurückgreifen. Damit sorgen die traditionellen Raucher, nebenbei erwähnt, mit den auf Zigaretten erhobenen Steuern immer noch für fünf Prozent der Staatseinnahmen Deutschlands – die Batterieraucher hingegen zahlen nur die Mehrwertsteuer und tragen so lediglich zur Erhöhung der Gewinnmarge der Hersteller bei.

Trotz aller Verbote, Einschränkungen und Kampagnen, trotz aller Gerichtsurteile, Gesetzesinitiativen und Drohungen der Krankenkassen, geht also der Zigarettenkonsum in Deutschland, was die reine Menge angeht, nicht in dem Maße zurück, wie es erwartbar wäre: Seit 2004 (mit etwa 90 Milliarden verkauften Zigaretten) sinken die jährlichen ­Absatzzahlen nur noch in gemächlichem Tempo, zuletzt blieben sie nahezu auf konstantem Niveau, wie das Statistische Bundesamt ermittelte. Das Rauchen verschwindet zwar immer mehr aus den Augen der Öffentlichkeit, aber das hat vor allem damit zu tun, dass die Raucher aus der Öffentlichkeit verschwinden, zumindest aus jenem Ausschnitt des öffentlichen Lebens, der medial präsentiert wird. Das heißt nicht nur, dass sich schon seit Jahren kein sogenannter Promi mehr mit Zigarette zeigt beziehungsweise erwischen lässt, sondern auch, dass in den hippen Milieus und Locations der Innenstädte andere Drogen regieren als die plebejischen Kippen, bei denen die Alltagssprache schon gleich keinen Unterschied mehr macht zwischen dem Produkt selber und seinem Abfall.

 

Was sich viel stärker geändert hat als der Zigarettenabsatz, ist die sozi­ale Schichtung der Tabakkonsumenten: Das Deutsche Ärzteblatt hatte in einer Studie 2011 ermittelt, dass »sich in der Oberschicht der Raucheranteil von 40 Prozent Mitte der sechziger Jahre auf 19 Prozent im Jahr 2010 mehr als halbiert hatte«. In den ­»unteren sozialen Schichten« hingegen sei die Raucherquote mit etwa 34 Prozent seit Mitte der siebziger Jahre stabil geblieben. 2004 betrug ­einer Studie des Deutschen Krebsforschungszentrums zufolge der Raucheranteil bei denjenigen, die beruflich »einfache manuelle Tätig­keiten« verrichten, 50 Prozent; auf der anderen Seite hat der Raucher­anteil bei Gymnasiasten und Studenten in­zwischen den Tiefststand in der ­Ge­schichte der Bundesrepublik erreicht.

Mittlerweile gilt der Tabakkonsum also geradezu als Stigma der sozial Benachteiligten. »Wer da rauchend auf der Straße steht, wird fast zwangsläufig der sozialen Gruppe zuge­ordnet, zu welcher auch die Bettler, Schnorrer und Penner gehören«, kommentierte die FAZ 2006 die Auswirkungen der rigiden Antirauchergesetze in den USA. Immer noch weiter zu rauchen, ist auch ein Erkennungsmerkmal jener verstockten Mittelalten, die sich einfach nicht dahin verbiegen können, die neue digital-prekäre Zeit auch noch schön zu ­finden, sondern obstinat an Sitten aus einer untergegangenen Epoche festhalten, in der eher Gewerkschaften und Unternehmerverbände die Politik bestimmten als NGOs und die segelnde Unschuld vom schwedischen Lande. Vielleicht steckt in dem Festhalten am Tabak auch die noch nicht ganz ausgerottete Erinnerung daran, was Zigarren und insbeson­dere Zigaretten kulturell einmal verkörperten.

Jedenfalls waren es seit der Entdeckung und Verbreitung des Tabaks immer die Autokraten, die die Tabakkonsumenten mit drakonischen ­Verboten bedrohten oder im Eigeninteresse übermäßig besteuerten: Man wäre versucht, eine Linie zu ziehen vom spanischen Klerus der ­Inquisition über den grausamen Sultan Murad IV. bis zu Adolf Hitler, der die in der Novemberrevolution erkämpfte Erlaubnis, beispielsweise in der Eisenbahn oder am Arbeitsplatz zu rauchen, wieder einschränkte, weil er den Tabak für ein »Rassegift« hielt, mit dem die Indianer sich für den Alkohol an den Weißen rächen wollten – aber das bedeutete mit Sicherheit, die historischen Parallelen zwischen diesen fanatischen Nichtrauchern überzustrapazieren. Eher lässt sich eine demokratisch-egalitäre Kontinuität des Rauchens festhalten: Setzte das Bürgertum das Recht, auf offener Straße Zigarren zu rauchen, in der Paulskirche gegen den preußischen König durch, so ­stehen die Emanzipationsbewegungen des Proletariats und der Frauen gleichermaßen im Zeichen der industriell hergestellten Zigarette: Ihr Konsum drückte aus, dass man, ob im Haushalt oder in der Fabrik, selbst über seinen Körper verfügen wollte, um teilzuhaben am bislang männlich-bürgerlichen Privileg des Rauchens als kontemplativer Unterbrechung des Alltags mitsamt seiner Pflichten.

Diese egalitäre Tendenz der Industriegesellschaft, die sich in der Zigarette versinnbildlichte, endet mit der Deindustrialisierung, in deren Zuge der Anteil des Arbeitseinkommens am gesellschaftlichen Reichtum ­stetig sank, während jener der Rendite aus zunächst Aktien und jetzt ­Immobilien stieg und sich die Gesundheitsbewussten von den Un­gesunden separierten. Um nicht missverstanden zu werden: Daraus ergibt sich für den, der mit dieser Entwicklung nicht einverstanden ist, nicht die Notwendigkeit, weiter zu rauchen oder es (wieder) anzufangen, denn als bloße Protestgeste wäre es das Lungenkrebsrisiko nicht wert. Notwendig wäre es aber, dem alles andere als stummen Zwang der Verhältnisse zum Nichtrauchen zu widersprechen und das Recht der Einzelnen auf kleine, sinnlose Lustbarkeiten wider das ökonomische Nützlichkeitskalkül von Krankenkassen und alerten Volkspädagogen zu verteidigen – auch wenn man selbst Nichtraucher ist.