NSU-Tribunal

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Anfang November findet zum dritten Mal das NSU-Tribunal statt, diesmal in Chemnitz und Zwickau, wo die Mitglieder der Terror­organisation einst wohnten. Örtliche Gruppen dokumentieren die NSU-Verbrechen und kämpfen gegen Rassismus.

Chemnitz ist die drittgrößte Stadt Sachsens und war Wohnort der drei Kernmitglieder des rechtsterroristischen »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU). Ein sogenannter Critical Walk führt im Stadtteil Kaßberg zu Wohn- und Tatorten des NSU. Wer ein Smartphone besitzt, kann sich von einer kostenlosen App auf diesem »Walk« durch die Straßen lotsen lassen.

Wie bei den NSU-Tribunalen in Köln und Mannheim soll es auch in Chemnitz und Zwickau darum gehen, Akteure des NSU-Komplexes anzuklagen.

Der Weg beginnt an einem kleinen Eckladen auf der Barbarossastraße. Hier befand sich in den neunziger Jahren eine Postfiliale. Im Oktober 1999 ver­übten Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos dort den zweiten von acht Raub­überfällen in Chemnitz, die dem NSU zugeordnet werden konnten. Mit einem grünen Moped der Marke Simson sollen die beiden Täter Zeugenaus­sagen zufolge geflüchtet sein. Derjenige auf dem hinteren Sitz des Mopeds habe eine Pistole in der Hand gehalten, erinnerte sich ein Zeuge Jahre später beim NSU-Prozess in München. Knapp 5 800 D-Mark erbeuteten die Täter bei dem Überfall.

Der Critical Walk führt auch an einem der damaligen Wohnorte des NSU-Kerntrios in Chemnitz vorbei. Die Adresse in der Limbacher Straße ist nur wenige hundert Meter von der ehemaligen Postfiliale entfernt. Auf einem Weg, der etwa eine Stunde dauert, ist es mit der App möglich, den Stadtteil auf eine neue Art kennenzulernen.

Nach wie vor leben in Chemnitz und Umgebung zahlreiche Neonazis unbehelligt, die den NSU unterstützten. Beate Zschäpe hat sich zu Beginn des Jahres in die Justizvollzugsanstalt Chemnitz verlegen lassen, wohl um in der Nähe ihrer Bekannten und Unterstützerinnen zu sein. Diejenigen, die diese Orte in Chemnitz in eine App aufgenommen haben, waren Anfang 1998, als Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe aus Jena flüchteten und in Chemnitz untertauchten, noch nicht geboren. Junge Menschen haben sich, angeleitet von der mobilen Jugendarbeit des AJZ Chemnitz und vom Kulturbüro Sachsen, in einer Geschichtswerkstatt zusammengefunden, um den Critical Walk zu entwickeln. In Zwickau, wo das NSU-Kerntrio zuletzt wohnte, arbeitet das Kulturbüro Sachsen mittlerweile an ­einem ähnlichen Projekt mit Schülerinnen und Schülern.

Der Critical Walk in Chemnitz ist einer der Programmpunkte des NSU-Tribunals, das am ersten Novemberwochenende in Chemnitz und Zwickau stattfinden soll (www.nsu-tribunal.de). »Der NSU und seine Unterstützerinnen haben das Konzept von Blood & Honour in Sachsen und ganz besonders in Chemnitz und Zwickau auf die Straße getragen«, sagt Hannah Zimmermann vom Netzwerk »Offener Prozess« aus Chemnitz im Gespräch mit der Jungle World. Die Initiative versucht, die Aufarbeitung der Verbrechen des NSU und das Gedenken an dessen Opfer in der Region Südwestsachsen zusammenzubringen. »Das Leben von Migrantinnen und Migranten war nicht nur zu dieser Zeit in der Region durch diese rassistische Ideologie stark beeinflusst«, so Zimmermann.

 

Deshalb liegt der Schwerpunkt des NSU-Tribunals in Chemnitz und Zwickau nicht auf den Geschichten der Täter und ihrer Unterstützer, sondern auf der Geschichte und den Lebensumständen von Migrantinnen und Mi­granten in Ostdeutschland. Wie bei den vorherigen NSU-Tribunalen 2017 in Köln und 2018 in Mannheim soll es auch in Chemnitz und Zwickau um verschiedene Aspekte gehen. Im Aufruf des Tribunals heißt es: »Angeklagt werden die Akteurinnen und Akteure des NSU-Komplexes mitsamt ihrer institutionellen Einbettung. Beklagt werden die Opfer rassistischer Gewalt und das entstandene Leid. Eingeklagt wird das Prinzip einer offenen, durch Migration entstandenen Gesellschaft der Vielen.«

»Gerade dort, wo das Täternetzwerk nach wie vor noch aktiv ist, ist es wichtig, dass migrantische Selbstbehauptung gestärkt wird«, sagt Danilo Starosta vom Kulturbüro Sachsen im Gespräch mit der Jungle World. Im Sommer plante er in Chemnitz gemeinsam mit einer arabischen Gruppe und vielen weiteren Partnern ein öffentliches Zuckerfest. In sozialen Medien ergoss sich deshalb ein rassistischer Shitstorm über die Veranstalter. Extreme Rechte um Martin Kohlmann, den Schatzmeister der Wählervereinigung Pro Chemnitz, riefen dazu auf, neben dem Zuckerfest ein Schwein zu grillen. Schließlich feierten fast 1 000 Menschen, darunter zahlreiche Familien mit Kindern, rund um den Karl-Marx-Kopf in der Chemnitzer Innenstadt ein friedliches Zuckerfest. Für wenige Stunden sorgten sie für ein völlig anderes Bild der Stadt Chemnitz. Die Polizei hielt ein Dutzend extrem rechter Gegendemonstranten auf Abstand.

Im Zuge des Tribunals sollen auch Mitglieder der arabischen Gruppe, die das Zuckerfest in Chemnitz veranstaltete, über ihre Erfahrungen in der Stadt berichten und Veränderungen einfordern. Im Spätsommer 2018 geriet Chemnitz bundesweit wegen zahlreicher extrem rechter Demons­trationen und Ausschreitungen in die Schlagzeilen. Die Zahl der rassistisch und antisemitisch motivierten Überfälle stieg. Betroffen waren davon ­unter anderem von Migranten betriebene Restaurants. Bei Ermittlungen verdächtigte die Polizei nach Auskunft der Betroffenen auch die Betreiber und führte bei ihnen Finanzprüfungen durch. »Diese Ermittlungen zeigen Kontinuitätslinien im Denken der Polizei, die an die Verdächtigungen der Ermittler im Umfeld der Familien der NSU-Opfer erinnern«, sagt Hannah Zimmermann. Rassismus als Tatmotiv werde nach wie vor nicht ernst genug genommen.

Zimmermanns Initiative »Offener Prozess« setzt sich gemeinsam mit anderen Organisationen unter anderem für die Einrichtung eines Erinnerungs- und Dokumentationszentrums zur Aufarbeitung des NSU-Komplexes und des rechtsextremen Terrors in Zwickau ein. In einem solchen Dokumentationszentrum sollen Informa­tionen über den NSU archiviert und wissenschaftlich bearbeitet werden. Zudem könnte es ein Ort für Ausstellungen und politische Bildungsarbeit zum Thema werden. An Ideen für die Ausgestaltung eines solchen Zentrums mangelt es nicht. Was derzeit noch fehlt, sind der politische Wille und die finanzielle Ausstattung. Das NSU-Tri­bunal in Chemnitz und Zwickau könnte jedoch ein Schritt zur Verwirklichung eines solchen Vorhabens sein.