Der Spaziergänger zählt nichts mehr

Der Flaneur als Auslaufmodell

Radler und E-Rollerfahrer beanspruchen die Bürgersteige aggressiv für sich – und fühlen sich dabei moralisch überlegen. Der Fußgänger ist nur noch ein ärgerliches Verkehrshindernis.

Zu den sympathischsten deutschen Vereinen gehört FUSS e. V., der Fachverband zur Vertretung der Interessen von Fußgängerinnen und Fußgängern. Er setzt sich für barrierefreie und ausreichend breite Gehwege, für nützliche, aber gegen funktionslose Ampeln und für eine faire Koexistenz von gehenden und fahrenden Verkehrsteilnehmern ein. Er unterstützt Fußgänger darin, gegen platzgreifende Falschparker und übergriffige Radfahrer vorzugehen, und unterhält Ansprechpartner in zahlreichen Städten; in Leipzig kooperiert er seit einiger Zeit mit einem lokalen Beauftragten für den Fußverkehr. Auf seiner Internetseite und bei Veranstaltungen erinnert der Verein an die gesellschaftlichen Implikationen des Gehens als urbaner Form der Fortbewegung. Dass sich im Gehen ein Privileg des Bürgertums verallgemeinert habe, das mit dem Aufgehen der bürgerlichen in einer nachbürgerlichen Gesellschaft geschliffen worden sei, stimmt dabei nur halb. Genutzt wird die Möglichkeit, sich in der Stadt zu Fuß zu bewegen, derzeit jedenfalls häufiger von besonders armen und besonders wohlhabenden Menschen als von genuinen Bürgern; eher von Jungen und von Alten als von denen, die ökonomisch und politisch mitten im Leben stehen.

Wenn Jesus über das Wasser gehen konnte, ohne zu ertrinken, kann Torben auch die Kreuzung überqueren, ohne zu lenken: Schlägt er sich dabei ein paar Zähne aus, war es wenigstens für eine gute Sache.

Die 2018 vom Infas-Institut im Auftrag des Bundesverkehrsministeriums erstellte Studie »Mobilität in Deutschland« zeigt, dass sich die Arten der Fortbewegung im öffentlichen Raum wieder stärker entlang ökonomischer Unterschiede differenzieren. 20 bis 30 Prozent der Menschen mit niedrigem oder sehr niedrigem Einkommen gaben bei der Umfrage an, am jeweiligen Er­hebungstag einen Fußweg gewählt zu haben, ebenso wie 15 bis 20 Prozent der Menschen mit sehr hohem Einkommen. Demgegenüber verzichtet die gehobene Mittelschicht am häufigsten darauf, den Fußweg einzuschlagen, wenn ein anderes Verkehrsmittel verfügbar ist. Überdies gehen Menschen unabhängig vom sozialen Status besonders häufig in der Zeit vor dem Berufseintritt und nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben zu Fuß. Die Bedeutung des Gehens als Haltung des seiner selbst mächtigen Bürgers – der angesichts des stummen Zwangs der ­kapitalistischen Totalität ohnehin eine höchst ideologische Figur war – überlebte schon in der Phrase vom aufrechten Gang nur als Verfallsform. Mittlerweile scheint sie weiter im Kurs gefallen zu sein. Wenn überhaupt, fungiert das Gehen als negatives Privileg, als Fortbewegungsweise derjenigen, denen nichts anderes übrigbleibt oder die es sich herausnehmen können, weil sie von den Zwängen des Selbsterhalts freigestellt sind. Zugleich sind die, die viel gehen, oft besonders prekäre Verkehrsteilnehmer. Kinder und Alte gehören nicht nur zu den unberechenbaren Faktoren im Straßenverkehr, sondern sind auch dessen leichte Opfer.

Die Abwertung des Autos, gegen das in den vergangenen Jahren ähnliche Kampagnen geführt wurden wie gegen das Rauchen, hat die Mobilitätsgewohnheiten der Bevölkerung bislang nicht tiefgreifend beeinflusst. Der Anteil von PKW am Verkehrsaufkommen nimmt weiter zu, wenngleich weniger stark als in früheren Jahren. Genutzt werden PKW indessen häufiger als früher von alten Menschen und Senioren und seltener von der jungen Generation, deren Angehörige gerade dann, wenn sie über einen abgesicherten sozialen Status verfügen, auf das Auto verzichten. Dass diese Klientel zugleich am wenigsten gern zu Fuß geht, bekräftigt den Alltagseindruck, wonach die Radfahrertrauben, die das Fahrradfahren in der Großstadt so unangenehm machen, sich wesentlich aus ihr rekrutieren. Wenn der Anteil der Fußgänger am Verkehrsaufkommen trotz der Versuche der Einhegung des Autoverkehrs in den Städten mit knapp über 20 Prozent heutzu­tage rekordverdächtig niedrig ist, dürfte das damit zu tun haben, dass die mit Fahrrädern und anderen Rollmobilen ausgestatteten Verkehrsteilnehmer den Platz, der den PKW in den Städten genommen wird, genauso aggressiv beanspruchen wie früher die Sonntagsfahrer.

 

Dass es sich bei den meisten Nutzern von Fahrrädern und E-Rollern nicht um flauschige Slow-Traffic-Hippies handelt, sondern um verrohte Angehörige einer Gesellschaftsschicht, die sich durch eine toxische Mischung aus ökonomischer Wohl­situiertheit und moralischer Hybris auszeichnet, wird an ihrem Sozialverhalten evident. Wenn Radfahrer, weil sie so ein gemütliches Transportmittel benutzen, sich von der Pflicht zur Einhaltung der Verkehrsregeln suspendiert fühlen, ist das keine Neuigkeit. Grüne Frührentner mit Fahrradklammern und Öko-Muttis, die den Nachwuchs samt Topfpflanzen auf ihrem Anhänger transportieren, waren schon immer eine Gefahr für den Straßenverkehr. Neu hingegen ist ein anderer, fast immer männlicher Typus des Radlers, der sich als Mischung aus Buddhist und Kamikaze-Fahrer beschreiben lässt.

Er dünkt sich zu souverän und zu cool, um den Lenker zu benutzen, und lässt stattdessen während der Fahrt die Arme lässig herunterbaumeln, verschränkt sie trotzig vor der Brust oder ganz besonders keck hinter dem Kopf, und schaut auf die weiterhin brav lenkenden Radfahrer der Umgebung wie auf lästige Insekten herab. Gerät ihm mal die Krücke ­einer Oma oder die Leine eines Hundes zwischen die Speichen, hat er nur Verachtung für solch aufdringliches Geschmeiß übrig; legt er am unerwartet hohen Bordstein eine doppelte Rolle vorwärts hin, schimpft er auf die Stadtverwaltung. Nicht jugendlicher Übermut oder kindliche Experimentierfreude treiben ihn an, sondern die Om-Om-Weisheit desjenigen, der sich qua moralischer Vollkommenheit für physisch un­antastbar hält. Wenn Jesus über das Wasser gehen konnte, ohne zu ertrinken, kann Torben auch die Kreuzung überqueren, ohne zu lenken: Schlägt er sich dabei ein paar Zähne aus, war es wenigstens für eine gute Sache.

Ähnlich aufrecht und stolz wie der dem Crash entgegenmeditierende Kamikaze-Radler stehen die E-Rollerfahrer auf ihren Rollern. Schließlich sind sie keine tumben Skater-Kids, sondern engagierte Mitglieder der Zivilgesellschaft, die ihre ökologisch korrekt gewaschenen Mähnen dem Wind aussetzen können, ohne sich schämen zu müssen. Ihre Roller sind darum auch keine profanen Verkehrsmittel, die man nach Benutzung an die vorgesehenen Orte stellt, sondern auratische Objekte, die wie in einer dekonstruktivistischen Installation immer genau so zu platzieren sind, dass ihr Verkehrsbehinderungspotential optimal ausgeschöpft wird. Während sich Radfahrer manchmal immer noch als demokratische Verkehrsteilnehmer fühlen und daher zumindest die Regel des Rechtsverkehrs einhalten (ein Relikt des Schulunterrichts, das bald beseitigt sein wird), sehen sich E-Rollerfahrer weniger als Nutzer eines Fahrzeugs denn als missionarische Gesandte, die im Namen einer Lebenshaltung, ja: einer Weltanschauung unterwegs sind und deshalb überall, jederzeit, in ­jedem Tempo und in jede Richtung ausschwärmen dürfen. Selbst wenn sie nach dem abendlichen Lounge-Besuch drei Promille intus haben, fühlen sie sich nüchtern, sobald sie in Tuchfühlung mit ihrem Gerät sind, und brettern in der glücklichen Gewissheit, ausschließlich klima­neutrale Todesfälle zu verursachen, als Hoppla-jetzt-komm-Ichs der besseren Zukunft über Straßenbahnschienen und Rentnerzehen.

Der Bürgersteig, schon dem Namen nach ein Anachronismus, wird angesichts dessen zum multifunk­tionalen Mobilitätsrelais. Da der öffentliche Raum kein Ort mehr ist, an dem sich Menschen um seiner selbst willen aufhalten, sondern nur noch möglichst effizient zu durchquerende Totfläche, werden die Fußgänger in ihm nur noch geduldet, ­solange sie eben dies tun: den Raum durchqueren, das heißt, ihn allein deshalb betreten, um so schnell wie möglich aus ihm zu verschwinden. Derjenige Bürger jedoch, der das Gehen tatsächlich als bürgerliche Verkehrsform praktiziert, indem er den öffentlichen Raum aufsucht, um sich darin aufzuhalten, nähert sich objektiv immer mehr dem Stadtstreicher und Pennbruder an, selbst wenn er noch nicht von Armut bedroht ist. Sein beharrlicher Aufenthalt in der Öffentlichkeit erscheint als Beleidigung der anderen Verkehrsteilnehmer, als sinnlos, störend und provozierend. Wie das Servicepersonal jungkulinarischer Lokale genervt reagiert, wenn ein Kunde auch nach dem dritten »Noch alles gut bei Ihnen?« trotz absolvierten Pflichtverzehrs auf seinem Stuhl sitzen bleibt, um zu lesen oder Menschen zu beobachten, so stehen Passanten, die in der Öffentlichkeit herumlaufen, ohne irgendwo anzukommen, im Verdacht urbanen Parasitentums. Wer die Stadt benutzt, wie sie dem eigenen Zweck nach verwendet werden will: als primären Ort, der nicht nur Mittel für etwas ­anderes ist, sondern reflektierend erfahren werden muss, der wird von den Rollerbürgern, die immer von irgendwo herkommen und irgendwo hinwollen, angesehen wie das Denkmal einer verhassten Vergangenheit. Die Stadt, die den Flaneur hervorgebracht hat, kennt ihn nur noch als Hindernis.