Das neue Album von Bohren & der Club of Gore

Der Duft der Gothics

Bohren & der Club of Gore üben sich auch auf ihrem neuen Album in jazziger Langsamkeit.

Bei so manchem Titel von Bohren & der Club of Gore reichen wenige ­Sekunden des Hörens aus, um das Wesen dieser Band zu erkennen, bei »Tief gesunken« zum Beispiel. Eine unterkühlte Pianotonfolge erklingt da, unterlegt von sphärischem Schwirren, und dann folgt dieser sich schier ziehende Stoßseufzer des Saxophons, ein epischer Klagelaut, ganze fünf Sekunden lang, der einen in der Luft hängen lässt, ehe das Instrument in die nächsten Töne hinübergleitet und der Song sich wie durch eine zähflüssige, weiche Masse langsam, ganz langsam fortbewegt.

So klingt nur eine Band der Welt, so klingen Bohren & der Club of Gore. Fast ironisch wirkt dieser schnelle Wiedererkennungseffekt, weil »Bohren«, wie die Band aus Mülheim an der Ruhr in Kurzform genannt wird, für ausufernde, extrem lange Stücke bekannt sind. Ihre Musik erfordert Zeit, Geduld, Aufmerksamkeit. Das Trio spielt rein instrumentale Stücke, die im Kern auf Slomo-Jazz-Drums, Rhodes-Piano und Saxophon basieren und die in frühen Bandtagen so gut wie immer die Zehn-Minuten-Grenze überschreiten. Mittlerweile mäßigen sie sich etwas, auf »Patchouli Blue«, dem dieser Tage erscheinenden neunten Album, benötigen sie für elf Songs nur noch 59 Minuten, was aber nicht heißt, dass sie das Tempo angezogen hätten.

Es ist, als hätte Bohren & der Club of Gore dem Jazz, dem Metal und dem Hardcore Beruhigungsmittel in hohen Dosen verabreicht.

Bohren & der Club of Gore machen seit 1992 unter diesem Namen Musik, mit dem Beinamen huldigen sie der stilprägenden niederländischen Metal-Band Gore, die sie seinerzeit dazu inspirierte, Instrumentalmusik zu spielen. Eine zeitlang waren ­Bohren als Quartett unterwegs, mittlerweile spielt die Band wieder in Dreierbesetzung: Der Multiinstrumentalist Morten Gass sowie der Schlagzeuger und Kontrabassist ­Robin Rodenberg sind von Beginn an dabei, der Saxophonist Christoph Clöser kam 1997 dazu.

Ende der neunziger Jahre fand dann auch die einzige größere Zäsur in der bisherigen Bandgeschichte statt. Denn während auf den ersten beiden Alben »Gore Motel« von 1994 und »Midnight Radio« von 1995 die Rock-, Metal- und Doom-Aspekte noch stärker im Vordergrund standen, wurden die Rhythmen und die Melodieführung mit »Sunset Mission« (2000) jazziger. Clösers Saxophonspiel veränderte die Atmosphäre der Stücke grundlegend, die Songs atmeten fortan den Geist dunstiger Jazz-Bars, ihnen war eine Noir-Ästhetik zu eigen. Clöser selbst beschrieb sein Wirken mal als »distanziert-kritische Haltung zum Saxophonspiel oder zu dem, was auf dem Saxophon gespielt wird«, kurz: Kitsch liegt dem Mann fern. Auf »Black Earth« perfektionierten Bohren zwei Jahre nach »Sunset Mission« den neuen Ansatz. Seither werden sie weltweit geschätzt für die Erfindung der Langsamkeit auf musikalischen Feldern, die zuvor eigentlich eher für ihr Uptempo bekannt waren: Jazz, Metal und (mit Abstrichen) Hardcore. Es ist, als hätte Bohren & der Club of Gore diesen Stilen Beruhigungsmittel in hohen Dosen verabreicht.

Daran hat sich bis heute, bis zu dem nach dem Goth-Duftklassiker Patschuli benannten Album, nichts geändert. Gleich der erste Gitarren- und Basslauf sowie die ersten Orgelklänge im eröffnenden »Total falsch« erwecken den Eindruck, als gehörten sie eigentlich doppelt so schnell gespielt. Der Track baut sich langsam auf, erzeugt Spannung, ehe nach zweieinhalb Minuten wie so oft das Saxophon als Spannungs­löser dazukommt und sich ein Song entfaltet, den wohl selbst David Lynch als Soundtrack für einen seiner Filme mit der Begründung »zu langsam« abgelehnt hätte.

Nachdem das jüngste Studioalbum »Piano Nights« (2014) fast noch reduzierter daherkam, als es Alben der Band ohnehin schon sind, entdeckt man auf »Patchouli Blue« mit jedem Hören neue Nuancen. Im Vergleich zum Vorgänger wirkt es vielschichtiger, dichter, tiefer. Zwar finden sich in den Tracks wie »Glaub mir kein Wort«, »Deine Kusine«, »Vergessen & Vorbei« und »Sag mir, wie lang« – für die Liedtitel bedient sich die Band gern mal bei der Schlager- und Populärkultur – zunächst einmal für Bohren typische Songstrukturen. Es erklingen ausgedehnte Soundflächen, gespielt auf der Orgel oder dem Vibraphon, und irgendwann in der zweiten Songhälfte kommt das Saxophon dazu, um das Stück noch einmal in eine andere Richtung zu schubsen. Besonders ist aber, dass eine jeweils ganz eigene Klangästhetik entsteht, am deutlichsten zu hören in »Deine Kusine«, wenn Clöser klingt, als wolle er mit dem Saxophon Pop-Balladen aus den Achtzigern auseinandernehmen. Sowieso sind bei mehrmaligem Hören die Feinheiten beeindruckend: Kontrabass und Piano in »Sollen es doch alle wissen« werden teilweise improvisiert gespielt, im Titeltrack scheint mit dem leichten Hall auf der Gitarre ein Hauch Morricone durch den Song zu wehen.

Als kühl, morbide und düster wird die Musik der Mülheimer gern beschrieben – eine zu eindimensionale und oberflächliche Beurteilung des Bohren-Sounds. Morten Gass hat dazu im Online-Magazin The Quietus vor einigen Jahren gesagt: »Was ist düstere Musik? Für einige Leute ist das Gothic, für andere Black Metal, und manche denken, ein Album ist düster, weil das Artwork düster ist oder die Musiker schwarze Fingernägel haben. Unsere Musik ist schöne, warme Musik, und für mich ist düstere Musik kalt. Am Ende hängt es vom Hörer ab.« Diese Aussage trifft eins zu eins auf »Patchouli Blue« zu, auch hier erscheinen Höhepunkte wie »Verwirrung am Strand« eher wie ein Wärmekissen für den Winter. Auch als »ereignisarm« gilt der Bohren-Sound; besser könnte man sagen: Das Ereignis ist das Nichtereignis, in den Pausen, in der Verzögerungstaktik, durch Mutation und Repetitivität im Sinne eines John Cage.

Die Ästhetik der Konzerte ist ebenfalls äußerst reduziert, lediglich eine Handvoll Lichtstrahler erleuchten die Bühne, ansonsten schaut man hinein in den dunklen Dunst. In den vergangenen Jahren scheint es immerhin auch in Deutschland angekommen zu sein, welch einzigartige Band da im Ruhrgebiet am Werke ist. 2014 traten die Musiker in der Kölner Philharmonie auf, auch der WDR sendete einen Auftritt im »Rock­palast«. International wurde ihre Bedeutung dagegen schon früher erkannt, sie haben in den vergangenen 20 Jahren fast überall in Europa, aber auch in den USA und in Russland gespielt. Musician’s musicians sind sie ohnehin seit langem. So kommt es nicht von ungefähr, dass im einzigen Song in der Bandgeschichte mit Gesang ein gewisser Mike Patton (Fantômas, Tomahawk) singt. Da covern sie mit »Catch My Heart« übrigens eine Nummer der deutschen Metal-Band Warlock.

Die Verweigerung prägt die Band auch auf »Patchouli Blue«, Bohren bilden die musikalische Antithese zur Pop-Kulturindustrie der Gegenwart: Radio-, spotify- und youtubetauglich ist keiner der elf Tracks auf diesem Album. Und selbst wenn es manchmal nur Sekunden braucht, um ein Bohren-Stück zu erkennen, so braucht es knappe Ressourcen wie Zeit, Muße und Aufmerksamkeit, um sich dieses Album wirklich zu erschließen. Man sollte sie sich nehmen.

Bohren & der Club of Gore: Patchouli Blue (PIAS)