Proteste in Chile im »März ohne Angst«

Ein März ohne Angst

Schulbesetzungen, Demonstrationen, Barrikaden: Die Proteste in Chile flammen seit Monatsbeginn erneut auf. Die Regierung droht an, erneut den Ausnahmezustand zu verhängen.

»Es kommt der Supermärz«, hieß es überall in Chile zu Beginn des Monats. Die Proteste gegen die unter Diktator Augusto Pinochet ausgearbeitete neoliberale Verfassung und die Regierungspolitik sowie die soziale Ungleichheit, die am 18. Oktober 2019 unter dem Motto #ChileDespertó (Chile ist aufgewacht) ausgebrochen waren, ließen in den ersten Monaten des Jahres etwas nach. Nun hatte man sich für den März aus mehreren Gründen Hoffnungen auf ein Wiederaufflammen gemacht. Die Rückkehr der Urlauber und Urlauberinnen zum Schul- und Semesterstart und mehrere mobilisierungsträchtige Anlässe weckten große Erwartungen.

Während am 1. März überall im Land wieder »Cacerolazos« (lautstarke Proteste mit Töpfen und Pfannen) zu hören waren, gab Präsident Sebastián Piñera ein Fernsehinterview. Er werde erneut die Verhängung des Ausnahmezustands in Betracht ziehen, sollte dies nötig sein, um die öffentliche Ordnung zu schützen, hieß es. Die Protestierenden ließen sich davon nicht einschüchtern. Als die Einwohnerinnen und Einwohner vieler großer Städte wie Santiago, Antofagasta oder Concepción am Morgen nach dem Interview aufwachten, fanden sie Dutzende Straßen blockiert sowie Schulen und Metrostationen besetzt. Vieles erinnerte an die Proteste im Oktober, als Schülerinnen und Schüler die Metrostationen aus Protest gegen die Erhöhung der Fahrpreise besetzt hatten. Auch jetzt ist ihre Rolle wieder zentral: Der Vereinigung der Sekundarschülerinnen und -schüler (ACES) zufolge sind noch immer 30 Gymnasien im ganzen Land besetzt, an 150 Schulen gibt es dauerhaften Protest gegen das privatisierte Bildungssystem.

Die chilenische Regierung hat angekündigt, Versammlungen mit mehr als 200 Personen wegen der Ausbreitung des Coronavirus zu verbieten.

Was am sogenannten Supermontag am 2. März begonnen hatte, entwickelte sich zu einer landesweiten Protestwoche, deren Höhepunkt die Demonstrationen zum Internationalen Frauentag werden sollten. Zuvor hatte Präsident Piñera mit einer Äußerung über die angebliche Mitschuld von Frauen an sexuellem Missbrauch die Wut der feministischen Bewegung auf sich gezogen. Entsprechend trug das Frontbanner der Demonstration in der Hauptstadt die Aufschrift »Tritt zurück, Piñera!« Unter dem Motto »Nie wieder ohne uns Frauen« protestierten in Santiago zwischen ein und zwei Millionen für das Recht auf Abtreibung und gegen geschlechtsspezifische Gewalt – so viele wie noch nie in Chile.

Die feministische Bewegung nimmt nicht nur dieser Tage eine tragende Rolle ein. »Soziale Bewegungen wurden in Chile schon immer von Frauen vorangetrieben. Vor Jahrzehnten, während der Militärdiktatur, haben Frauen den Widerstand angeführt – sei es durch Suppenküchen oder ihren Kampf für Menschenrechte«, sagte die Aktivistin Belén Calcagno aus Concepción gegenüber der britischen Tageszeitung The Guardian. Für den 9. März hatten feministische Bewegungen zum Streik aufgerufen. Erneut wurden wichtige Straßen in der Hauptstadt blockiert, allen voran demonstrierten Krankenpflegerinnen sowie Angestellte des Bildungssektors und des öffentlichen Dienstes am Präsidentenpalast vorbei zum »Platz der Würde«, dem zentralen Schauplatz der Proteste der vergangenen fünf Monate.

Dass die Proteste in Chile abermals diese Schlagkraft entwickeln, ist auch angesichts der Repression nicht selbstverständlich. Die Protestierenden machen sich deswegen unter dem Stichwort #MarzoSinMiedo (März ohne Angst) gegenseitig Mut. Nach Angaben des chilenischen Menschenrechtsinstituts (INDH) von Mitte Februar haben seit Oktober mindestens 445 Menschen durch die Geschosse der Polizei Verletzungen an den Augen davongetragen. Derzeit laufen mindestens fünf Verfahren wegen Tötungen gegen Polizisten und Angehörige der Armee. Derweil haben bereits im Dezember zahlreiche Organisationen, darunter Amnesty International, Human Rights Watch und die zuständige Kommission der Vereinten Nationen, schwere Menschenrechtsverletzungen – insbesondere während des Ausnahmezustands im Oktober – bestätigt.

Auch im März haben mehrere Fälle besonders brutaler Polizeigewalt erneut die internationale Aufmerksamkeit auf Chile gelenkt. So kursierte nach dem 8. März ein Video, das Polizisten bei der Misshandlung des 69jährigen Patricio Bao mit Schlagstöcken zeigt. Innenminister Gonzalo Blumel rechtfertigte den Polizeieinsatz. Statt der umstrittenen Gummigeschosse kommen nun immer öfter Tränengaskartuschen als Geschosse zum Einsatz. Dem INDH zufolge gab es dadurch bereits 271 Verletzte, der 48jährige Cristián Valdebenito, der am 6. März auf einer Demonstration getroffen wurde, ist der erste durch Tränengaskartuschen Getötete.

Der große feministische Protest am 8. März hat die Proteste trotz aller staatlichen Repression noch mehr befeuert. Sowohl zum zweiten Jahrestag des Amtsantritts von Piñera vergangene Woche als auch am Wochenende versammelten sich vor allem in Santiago wieder Zehntausende zum Protest – trotz der Ankündigung der Regierung, zunächst Versammlungen mit mehr als 500 Personen wegen der Ausbreitung des Coronavirus zu verbieten. Ab Mittwoch sollen nur noch maximal 200 Personen zusammenkommen dürfen, auch die Schulen sollen für zwei Wochen geschlossen werden.

Ob die Protestbewegung sich davon aufhalten lässt, darf bezweifelt werden. Vielmehr lassen weitere Anlässe in der zweiten Märzhälfte Großdemonstrationen erwarten: der Internationale Tag des Wassers, ein gemäß der Verfassung privatisiertes Gut in Chile, sowie der Día del Joven Combatiente, ein Protesttag am 29. März in Gedenken an die Opfer der Militärdiktatur. Auch die laufende Kampagne für das Verfassungsreferendum Ende April lässt eher erwarten, dass es zu weiteren gesellschaftlichen Konflikten kommt als zu einer Beruhigung. Dabei werden die Chileninnen und Chilenen, sollten es die Coronakrise und die Maßnahmen der Regierung nötig machen, auch auf eine lange Tradition kreativer Protestformen zurückgreifen können. Denn, so bekräftigen die Protestierenden es seit inzwischen fünf Monaten: »Das hier ist noch nicht vorbei.«