Nazis im hessischen Abklingbecken
Tobias R. in Hanau, Stephan E. in Kassel, Franco A. in Offenbach, ein NSU-Mord in Kassel und schließlich Björn Höcke als Geschichtslehrer in Bad Sooden-Allendorf: Das Land Hessen hat offensichtlich ein großes Problem mit extremen Rechten. Dass die Behörden in der Vergangenheit Schwächen zeigten beim Erkennen rechtsextremer Gefahr, erweist der Fall des mutmaßlichen Mörders des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, Stephan E., gegen den mittlerweile in weiteren Fällen ermittelt wird. Nach Informationen von NDR und Zeit wird E. nun auch wegen eines Messerangriffs im Jahr 2016 angeklagt. Ein Iraker wurde damals in Lohfelden bei Kassel von einem Mann mit einem Messer attackiert und schwer verletzt. Der Täter konnte unerkannt mit einem Fahrrad fliehen. Die Tat ereignete sich nur zweieinhalb Kilometer entfernt von E.s Wohnung; es gab auch Ermittlungen gegen ihn, doch zu einer Anklage kam es damals nicht. Jetzt, vier Jahre später, wurde DNA des Irakers an einem Messer im Haushalt von E. gefunden.
Die Ermittler sprechen von einer forensischen Meisterleistung. Das mag wohl stimmen – sie wäre aber nicht nötig gewesen, hätten Polizei und Verfassungsschutz bereits 2016 die rechtsextreme Bedrohung ernster genommen. Oder 2003, als es einen Mordversuch gegen einen antifaschistisch engagierten Geschichtslehrer in Kassel gab. Ein Schuss durch das Küchenfenster verfehlte ihn nur knapp. Bis heute ist die Tat nicht aufgeklärt. Ermittler fanden nun in verschlüsselten Dokumenten auf Stephan E.s Computer eine Informationssammlung über eben diesen Lehrer.
Der hessische Verfassungsschutz hatte Stephan E. aus den Augen verloren, nachdem er ihn 2015 als »abgekühlt« eingestuft hatte. So bezeichnen die Geheimdienstler Beobachtungsfälle, über die es fünf Jahre lang keine neuen Erkenntnisse gab. Der hessische Innenminister Peter Beuth (CDU) hat infolge des Mords an Lübcke angeordnet, weitere »abgekühlte« Rechtsextreme erneut zu prüfen. Auf Anfrage der Fraktion der Linkspartei im hessischen Landtag bestätigte Beuth, dass bei dieser internen Prüfung schon 20 Fälle entdeckt worden seien, in denen Rechtsextreme fälschlich als »abgekühlt« eingestuft worden waren. Die Dimensionen der Aktenlöschungen und Fehleinschätzungen werfe viele weitere Fragen auf, meinte Hermann Schaus, der innenpolitische Sprecher der Landtagsfraktion der Linkspartei. So werde bei mindestens 150 weiteren Personen derzeit noch geprüft, ob sie vor, während und nach der Aktensperrung in der Neonaziszene aktiv geblieben seien. Schaus sprach von »jahrzehntelangen Fehlleistungen des Innenministeriums und des sogenannten Verfassungsschutzes«.
Die schwarz-grüne Landesregierung Hessens verteilt derweil Plakate an Schulen, die vor Antifaschismus warnen. Diese gehören zu »Aufgeklärt statt autonom«, einer hessischen »Aufklärungskampagne zur Prävention von Linksextremismus für die Schulen«. In deren Rahmen erhielten alle Schulen des Landes mit neunter und zehnter Jahrgangsstufe eine aus zwölf Hochglanzplakaten bestehende Ausstellung mit Unterrichtsmaterialien, um das Thema »Linksextremismus« zu behandeln oder im Schulgebäude eine Ausstellung zu gestalten. Verantwortlich für dieses Projekt ist das »Hessische Informations- und Kompetenzzentrum gegen Extremismus« im Innenministerium.
Redaktionell realisiert hat diese »Aufklärungskampagne« die Eduversum GmbH in Wiesbaden. Einem Gutachten der Gewerkschaft Erziehung und Wissen (GEW) Hessen zufolge ging die Firma aus dem FDP-nahen Universum-Verlag hervor. Die Materialien von Eduversum würden häufig in Zusammenarbeit mit Lobbyverbänden erstellt. Wie diese Zusammenarbeit konkret aussieht, werde allerdings nicht offengelegt. »Dass Schülerinnen und Schüler beispielsweise mit dem Unterrichtsmaterial ›Träume finanzieren‹, das ›in Zusammenarbeit‹ mit dem Verband der Privaten Bausparkassen e. V. erstellt wurde, Vorzüge des privaten Immobilienbesitzes kennenlernen sollen, verwundert nicht«, so die Gutachter der GEW. Auch der hessische Verfassungsschutz scheint bei der Kampagne mitgearbeitet zu haben. Die Projektseite jedenfalls verlinkt direkt auf mehrere Angebote des Geheimdienstes.
Das hessische Innenministerium begründet die Kampagne mit den Ausschreitungen beim G20-Gipfel in Hamburg 2017. Sie solle Schulen und Lehrkräften curricular abgesichertes und didaktisch aufbereitetes Material zur Verfügung stellen, um das Thema »Linksextremismus« im Unterricht behandeln zu können. Die Gutachter der GEW Hessen dagegen melden erhebliche Zweifel an, ob dies gelungen sei. Konzeptionell basiert die ganze Kampagne auf der sogenannten Hufeisentheorie. Diese setzt linken und rechten Extremismus gleich, verharmlost so die Gefahren von Rassismus und Faschismus und wähnt die sogenannte politischen Mitte frei von diesen Gefahren.
In der »Aufklärungskampagne« zeigen sich die konkreten Schwächen dieser Theorie. Das erste Plakat »Extremismus gegen die Demokratie« zeigt drei gleich große Gespenster: den Linksextremismus, den Rechtsextremismus und den Islamismus. Das erste Gespenst scheint das schlimmste zu sein, denn eine Tabelle auf dem Plakat verrät, dass es in Deutschland mehr Linksextremisten als Rechtsextremisten und Islamisten gebe. »Ich will eine sozialistische oder kommunistische Gesellschaft statt einer vielfältigen und demokratischen«, sagt der linksextreme Pappkamerad. Auf den folgenden Plakaten, die sich dann nur noch dem Linksextremismus widmen, wird heiter alles in einen Topf geworfen: Marx, Antifa, brennende Autos, Stalin, Mao, Anarchismus – alles irgendwie schlimm, alles irgendwie gegen den »liberal-demokratisch verfassten Staat«. Dass sowohl das Grundgesetz als auch die hessische Verfassung, also die grundlegenden Dokumente dieses demokratisch verfassten Staates in Hessen, auch von kommunistischen Politikern und Marxisten ausgearbeitet wurde, verschweigt die Aufklärungskampagne.
Besonders fatal angesichts der hessischen Verhältnisse ist das Plakat Nummer acht zum Thema Antifaschismus. »Linksextremisten instrumentalisieren den Antifaschismus, um Jugendliche zu manipulieren«, können die Schüler dort lernen, und: »Antifaschismus verbindet, stabilisiert und mobilisiert die linksextremistische Szene.«
Das Urteil Birgit Kochs, der hessischen GEW-Vorsitzenden, fällt schroff aus: »Diese Materialien, die nach unserem Wissen bislang zum Glück auf wenig Resonanz gestoßen sind, sollten nun flächendeckend in die Mülltonnen entsorgt werden. Für die Zukunft wünschen wir uns vom Land Hessen eine andere Prioritätensetzung in der Präventionsarbeit. Außerdem stellt sich einmal mehr die Frage, wie die Qualität von Unterrichtsmaterialien gesichert werden kann, die ergänzend zu den zugelassenen Schulbüchern zum Einsatz kommen.«
Wäre Björn Höcke nicht 2014 in den thüringischen Landtag gewählt worden, könnte er heutzutage an der Rhenanus-Schule in Bad Sooden-Allendorf seine Schüler mit diesen Materialien über Linksextremismus »aufklären«. Es ist kein Zufall, dass gerade Hessen ein Problem mit militanten Neonazis hat.