Ein Porträt der Band Ton Steine Scherben und ein Gespräch mit deren ehemaligem Schlagzeuger Wolfgang Seidel anlässlich des 50jährigen Jubiläums der Band

Ton, Steine, Scherben

Die Scherben waren Anfang der Siebziger die Band der Wahl für linksradikale Lehrlinge, aber auch die aufkommende Alternativbewegung. Ein kurzes Bandporträt zum 50jährigen Jubiläum.
Von

In den siebziger Jahren war Agitrock ein gebräuchlicher Genrebegriff. Nahezu jede bundesrepublikanische Band von wenigstens regionaler Bekanntheit, die sich damals daran versuchte, Deutsch – die Sprache der Wehrmacht – mit Rockmusik – der Konsequenz aus der Popkultur der US-amerikanischen und britischen Befreier – zusammenzubringen, legte noch mehr Wert auf politische Progressivität, als es ohnehin üblich war: Eine Weile lang, zumindest bis Udo Lindenberg kommerziell reüssierte, waren Deutschrock und Agitrock mehr oder minder dasselbe. Als Protagonist dieses Genres gilt zu Recht die Berliner Band Ton Steine Scherben, die den harten Freak-Rock der Detroiter MC 5 (»Kick out the Jams«) und den skeptischen Blick der Londoner Kinks auf den proletarischen Alltag (»Dead End Street«) mit zeitgenössischen radikalen Slogans (»Macht kaputt, was euch kaputtmacht«) verband.

»Warum geht es mir so dreckig« war denn auch das erste Album der Band betitelt, die damals aus den Musikern des Lehrlingstheaters Rote Steine bestand; jener Roten Steine, die im Spätsommer 1970 bundesweite Aufmerksamkeit erlangt hatten, als sie, so die Legende, mithalfen, kaputtzumachen, was sie betrogen hatte: nämlich beim Abfackeln der Bürocontainer und des Equipments der mit den Einnahmen des deutschen »Love & Peace«-Festivals auf Fehmarn getürmten Veranstalter. Diese Art von Bekanntheit machte die Band zwar zum Geheimtipp unzufriedener Lehrlinge und Schüler in der Bundesrepublik, schloss aber von vornherein einen Plattenvertrag mit einem großen Label aus, obwohl es wohl nie leichter war als damals, den seinerzeit einigermaßen desorientierten Musikkonzernen radikale oder obskure Musik unterzujubeln.

Zwei mit Heftklammern zusammengetackerte braune Pappkartons, amateurhaft und spärlich bedruckt, bildeten die Hülle, roh wie die Musik auf der Platte, die darinnen steckte.

Die Scherben machten aus der Not eine Tugend, veröffentlichten die Platte auf ihrem eigens dazu gegründeten Mini-Label »David Volksmund« und brachten sie auch gleich selber unter die Leute. »Schneeball« hieß der dafür gegründete Vertrieb (dessen Nachfolge dann Indigo angetreten hat), der in den ersten Jahren hauptsächlich aus den Schrottbussen der beteiligten Bands bestand, neben den Scherben etwa noch Embryo, Sparifankal oder Missus Beastly. Die Musiker schleppten Pappkartons voller LPs eigenhändig in die Plattenläden und versuchten die Inhaber zu überreden, die Platten in Kommission zu nehmen.

»Warum geht es mir so dreckig« – mit Wolfgang Seidel am Schlagzeug eingespielt – war deshalb, wenn man damals in der Provinz wohnte, nur recht schwer zu bekommen. Ohne Einkaufsfahrt in die nächste Großstadt, in der man auch noch den richtigen Shop kennen musste, gab es keine Schneeball-Platte. Die gewollte, militante Distanz zum business drückte sich auch in der, nun ja, Gestaltung der Platte aus: Zwei mit Heftklammern zusammengetackerte braune Pappkartons, amateurhaft und spärlich bedruckt, bildeten die Hülle, roh wie die Musik auf der Platte, die darinnen steckte: Seite eins enthielt Stücke der Liveaufnahme eines Scherben-Konzerts, das der Besetzung des Bethanien am Kreuzberger Mariannenplatz voranging, Seite zwei in einem Hinterhofstudio in der benachbarten Admiralstraße gemachte Aufnahmen.

Trotz schwieriger Bedingungen waren die Scherben spätestens ab jetzt die Band der Wahl für linksradikale Lehrlinge und Schüler, aber auch für die entstehende »Lumpenbourgeoisie«, so das im Nachhinein betrachtet nicht ganz unzutreffende Schimpfwort strammer Marxisten-Leninisten für die aufkeimende Alternativszene, zu denen auch die Bewohner des Rauch-Hauses auf Distanz blieben. Die Scherben begleiteten die wilden Streiks jener Jahre, die orga­nisierten Schwarzfahraktionen, die Hausbesetzungen der Jugendzentrumsbewegung – aber auch eben die selbstbezüglichen Handwerks- und Landwirtschaftsprojekte deutscher Späthippies. Eine inhaltliche Spannung, die sich in starken Schwankungen zwischen den Stücken auf den beiden folgenden Alben – »Keine Macht für niemand« (1972, im weißen Pappschuber) und vor allem »Wenn die Nacht am tiefsten« (1975, in durchsichtiger Plastiktüte) – niederschlugen: Sympathischer Proletkult stand, wie eben auch in der politisch-kulturellen Wirklichkeit der Mittsiebziger, dort nahezu unverbunden neben musikalisch-professionell ambitionierter produzierten Stücken, die mit sektenhaft anmutender Erlösungslyrik aufwarteten. Abseits davon lieferten Rio Reiser und die Scherben auch noch die Musik für die schwule Revue »Brühwarm«, die in der zweiten Hälfte der Siebziger skandalumwittert im deutschen Sprachraum tourte.

Die Scherben gingen in der Orientierungskrise nach 1975, die unmittelbar mit der ökonomischen Krise zusammenhing, schließlich nicht den Weg der Lehrlinge (damals eher in die Arbeitslosigkeit und die Umschulung als ins Paradies, von dem die Scherben sangen), sondern den der Alternativen: räumlich auf den Ökobauernhof nach Friesland, geistig in den boomenden Neomystizismus, musikalisch schließlich in den generalüberholten deutschen Schlager, die sogenannte Neue Deutsche Welle (NDW). Dass ausgerechnet Claudia Roth (ja, die Claudia Roth) auch noch in den letzten Jahren der Band Managerin wurde, fällt gegen die überaus schwachen, musikalisch wie textlich überflüssigen beiden letzten Alben der Scherben (1981: »IV«, 1983: »Scherben«) schon kaum mehr ins Gewicht. Dass Sänger und Mitgründer Rio Reiser Mitte der achtziger Jahre auf seine Weise tatsächlich Volkssänger wurde, parodierte dann auch noch bitter den einstmals revolutionär vorgetragenen Anspruch der Scherben, »Volksmusik« zu machen, wie sie ihn im Interview mit dem WDR 1971 an einer Kreuzberger Straßenecke formuliert hatten: »Wir wollen Volkslieder machen, sie können ein revolutionäres Moment sein.«