Halbe Wahrheit, ganze Stadt
Bei einem solch megaloman anmutendem Buch, wie es Jens Bisky mit der Biographie Berlins gerade vorgelegt hat, ist man zunächst skeptisch. Ein wenig erinnert das Projekt dann doch an den in den neunziger Jahren von der Literaturkritik geforderten »Wenderoman« oder den vom Feuilleton herbeigesehnten »Berlin-Roman«. Schon damals waren viele in der Hauptstadt lebende Autoren und Autorinnen der Meinung, dass die Stadt so groß sei, dass man der Leserschaft die Lektüre vieler verschiedener Romane über Berlin zumuten konnte. Die Sorge vor einem maskulinem Muskelspiel in Sachen Hauptstadtbuch hat sich jedoch als unbegründet erwiesen: Jens Bisky, Redakteur im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung und Autor mehrerer Bücher, darunter »Geboren am 13. August – Der Sozialismus und ich« (2004) und »Die deutsche Frage: Warum die Einheit unser Land gefährdet« (2005), schwingt sich nicht zum Berlin-Erklärer auf, er ist eher ein Berlin-Beobachter und -Zuhörer, vielleicht auch ein -Versteher.
Die Feststellung, Neukölln gelte als Symbol »gescheiterter Integration«, ist bei all den Touristen, Hipstern und Studierenden, die den Bezirk entdeckt haben, nicht mehr zeitgemäß. Hier kann man Jens Bisky selbst beim Wort nehmen. »Was immer über Berlin erzählt wird, stimmt höchstens halb«, schreibt er.
Der Titel »Berlin – Biographie einer großen Stadt« zeigt schon, dass der Autor seinen Untersuchungsgegenstand wie eine Person betrachtet: launisch und wankelmütig und doch mit markanten Eigenschaften. Das Buch umfasst eine Spanne von 500 Jahren. Es geht von Berlin-Cölln an der Spree bis zum Badeschiff an der Spree. Wandlungsfähigkeit und Offenheit charakterisieren für ihn die Stadt. Die Wandlungsfreudigkeit wird als das eigentlich Kontinuierliche herausgestellt. Bisky erzählt nicht nur in langen historischen Linien, sondern vor allem soziopsychologisch in ausgewählten »kleinen« Einzelgeschichten und -personen von dieser Entwicklung und vom lässigen Lebensgefühl der Bewohner Berlins. Passenderweise schreibt der Biograph über die Zeit Schinkels nicht allzu ehrfürchtig-verklärend, sondern legere Sätze wie: »Dem Gendarmenmarkt hatte Schinkel eine neue Mitte gegeben, die sich mit Gewimmel und Gewirr offenbar gut vertrug.« Und das, obwohl Bisky über Architektur in der Epoche Goethes promoviert hat.
Biskys fast 1 000seitiger Streifzug durch 500 Jahre Stadtgeschichte birgt auch für Berlinerinnen und Berlinern einige Überraschungen. So schwärmte Mark Twain, der von 1891 bis 1892 mit seiner Familie an der Spree lebte, Berlin sei die sauberste, ordentlichste und am besten organisierte Stadt, die er je kennengelernt habe. Allerdings mit einer Ausnahme: »Was die Hausnummern betrifft: So etwas hat es seit dem Chaos zu Anbeginn der Welt nicht mehr gegeben.« Auch die Postboten hatten ihre Mühe, sich in der stetig wachsenden Stadt zurechtzufinden. Zur besseren Orientierung wurden Zustellbezirke gebildet, die eine fortlaufende Nummerierung, mit der Mitte der Stadt beginnend, erhielten. Später wurden diese Nummern mit der Angabe der Himmelsrichtungen in neun Postbezirke unterteilt. »SO 36« etwa ist die alte Bezeichnung des Postzustellbezirks Südost 36. Außerdem erfährt man, warum Bismarck mal die Worte sprach: »Ich bin ein halber Berliner.«
Eindrucksvoll und beklemmend ist das große Kapitel »Berlin wird zerstört«. Darin geht es nicht nur um die materielle Zerstörung der Stadt im Zweiten Weltkrieg, sondern vor allem um die ideologische im Nationalsozialismus. Aufschlussreich liest sich die Schilderung des Reichstagsbrandes samt der bisher wenig bekannten Aussage Hitlers: »Dieses Feuer ist erst der Anfang.« Dass sich Hitler und Goebbels in der Nacht zum 27. Februar persönlich in der Redaktion des Völkischen Beobachters um die nächste Ausgabe kümmerten, dürfte auch manch einen überraschen. Auch in diesem Kapitel sind es die Berichte von Zeitzeugen, die das historische Geschehen rekonstruieren. So wie die 1901 in Berlin geborene Widerstandskämpferin Ruth Andreas-Friedrich, die im April 1945 mit Freunden (»zwei Illegalen, zwei Halblegalen, drei Fastlegalen«) im Keller hockt und das Kriegsende herbeisehnt.
Auch wenn man schon Hunderte Seiten gelesen hat, bleibt die Lektüre spannend, vielleicht, weil der Erzähler es vermeidet, in lexikalischer Manier über Berlin zu schreiben. Vielmehr erlaubt er sich eine subjektive Sicht. Gelegentlich kann man sich an seinen knappen Urteilen stören, etwa wenn es um die aus Leipzig stammende Architektin Sigrid Kressmann-Zschach geht, die den Steglitzer Kreisel entworfen hat. »Sie war als Architektin nicht originell«, schreibt Bisky. Wirklich nicht? Der Kreisel hat polarisiert wie wenige Gebäude in Berlin, vom ICC abgesehen, aber Originalität haben ihm wohl auch seine Kritiker zugebilligt.
Um Originalität bemüht ist auch der Autor. So nennt Bisky Berlin »Parvenupolis«, anspielend auf Walter Rathenaus Ausspruch, Berlin sei der »Parvenu der Großstädte«. Besonders interessant liest sich das Kapitel »Zerschnittene Stadt 1961–1989«. Hier gelingt es Bisky, die richtigen Worte zu finden. Lesenswert sind auch Kapitel wie »Lebenskünstler, West« und »Lebenskünstler, Ost«, die an die anarchistisch anmutende Westberliner Theaterszene erinnert. Auch hier erlaubt sich Bisky eigene Positionen. Zum Beispiel betont er nicht nur die hinreichend bekannten Unterschiede zwischen Ost- und Westberlin, sondern auch ihre nach wie vor bestehenden Gemeinsamkeiten, etwa wenn es um neue Bauvorhaben geht.
Bisky versteht es, Akzente so zu setzen, dass auch die jüngere Geschichte manchmal fremd erscheint, nicht nur die des Dreißigjährigen Kriegs oder der Märzrevolution. So kann sich heute kaum mehr jemand vorstellen, dass sich bis zum Jahr 2001 kein einziger hochrangiger Politiker zu seiner Homosexualität bekannt hat – bis Klaus Wowereit als Regierender Bürgermeister zum Zug kam. Seine Nominierungsrede (»Ich bin schwul und das ist auch gut so«) und ihre Folgen sind eines von vielen gelungenen Beispielen für die besonderen Momente in der Geschichte der Stadt. Manches, dessen Zeitzeuge man selbst war, wie die Reichstagsverhüllung durch Christo und Jean-Claude 1995, scheint eine Ewigkeit her zu sein.
Es liegt in der Natur der Sache, dass man insbesondere in dem Kapitel »Wahnsinn der ersten Tage. 1989 bis heute« einiges vermisst. Denn man hat seine eigenen Erinnerungen, nicht zuletzt die an die völkischen Exzesse der Nachwendezeit. Zwar kommt das Thema Fremdenhass vor, auch die Schmähschrift »Deutschland schafft sich ab« von Thilo Sarrazin wird erwähnt, es wird aber im Vergleich mit dem ausführlich gefeierten »Sommermärchen« und dem vom Soziologen Heinz Bude gefeierten Optimismus der »Generation-Berlin« etwas zu knapp abgehandelt. Und die Feststellung, Neukölln gelte als Symbol »gescheiterter Integration« mit einer hohen »Kriminalitätsrate«, ist bei all den Touristen, Hipstern und Studierenden, die den Bezirk für sich entdeckt haben, nicht mehr ganz zeitgemäß. Hier kann man Bisky selbst beim Wort nehmen: »Was immer über Berlin erzählt wird, stimmt höchstens halb«, schreibt er.
Große und kleine Ereignisse, die die Stadt in jüngster Zeit bewegt haben, wie die sogenannte Flüchtlingskrise, die Klimastreiks oder die schneelosen und warmen Winter, werden so anschaulich geschildert, dass man bei der Lektüre umso deutlicher die Einschränkungen wahrnimmt, die Berlin in diesem Frühjahr still stehen lassen. So ist die lebendige »Biographie einer großen Stadt« auch ein Ausblick auf die Zeit »danach«, wenn das Leben in die Stadt mit ihren Cafés, Bars, Clubs, Theatern und Museen hoffentlich wieder zurückgekehrt sein wird.
Jens Bisky: Berlin – Biographie einer großen Stadt. Rowohlt, Berlin 2019, 976 Seiten, 38 Euro